Während sich das ZDF im Sommerinterview an Oskar Lafontaine und seinem Rücktritt 1999 abarbeitet, statt nüchtern festzustellen, dass seine damaligen Positionen auch die heutigen sind, hat Sebastian Dullien von der Frankfurter Rundschau einmal untersucht, wer vor der Krise am lautesten nach Deregulierung schrie. Dazu hat der Autor einen Index erstellt. Das Ergebnis ist nicht weiter überraschend. Leider schlägt sich das nicht in den Umfrageergebnissen nieder. Da dominieren genau jene Gestalten, die vor dem Crash jenen Rezepten das Wort geredet haben, die heute öffentlich verurteilt werden.
Selten hat sich ein Sinneswandel so schnell vollzogen: Nicht einmal vier Jahre ist es her, dass viele Politiker in Deutschland gar nicht rasch genug den staatlichen Einfluss über die Wirtschaft abbauen wollten.
Noch im Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2005 schrieb die CDU/CSU: „Wir entschlacken die Vorschriften zum Kreditwesengesetz und führen die bestehende Überregulierung bei der Bankenaufsicht auf das notwendige Maß zurück.“
Das können sie übrigens auch im aktuellen Koalitionsvertrag nachlesen. Auf der Seite 86 f. finden sie unter dem Punkt „3. Finanzmarktpolitik“ folgende Passagen:
Eine der wichtigsten Voraussetzungen für Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum ist ein international wettbewerbsfähiger „Finanzplatz Deutschland“. Er ist die Grundlage für effiziente Finanzdienstleistungen für den Verbraucher und eine gute sowie kostengünstige Kapitalversorgung der Wirtschaft. Der deutsche Finanzmarkt besitzt ein großes Potential, das unter Beachtung der ständigen Fortentwicklung der globalen Finanzmärkte in der kommenden Legislaturperiode weiter ausgebaut werden soll. Dazu wollen wir:
[…]
Überflüssige Regulierungen abbauen. Dazu werden wir eine interministerielle Arbeitsgruppe einrichten, die im Dialog mit Markteilnehmern ein „Möglichkeitspapier“ zum Bürokratieabbau im Finanzsektor vorlegen soll. Bestehende Gesetze, Verordnungen und sonstige Regulierungen sind darauf zu überprüfen, ob sie ihr Ziel kostengünstig erreichen oder noch erforderlich sind. Als Startprojekt bietet sich die anstehende Novelle des Investmentgesetzes an.
Aber heute behauptet jeder Politiker, schon immer gewusst zu haben, dass der Finanzsektor deutlich mehr Regulierung und staatliche Aufsicht brauche. Die Studie von Dullien klärt auf:
„Für die Studie wurden dazu Reden, Gastbeiträge und Interviews führender Wirtschaftspolitiker in 34 tonangebenden deutschen Tages- und Wirtschaftsmedien ausgewertet. Aus diesen Daten wurde ein Index errechnet, der angibt, wie deutlich sich eine Persönlichkeit für Deregulierung stark gemacht hat.
Ein Wert von 100 Prozent bedeutet, dass der entsprechende Politiker sich in allen untersuchten Themenfeldern für einen Rückbau des Staates ausgesprochen hat, ein Wert von null, dass er bei keiner der untersuchten Fragen für weniger Staat plädierte.“
Nun raten sie mal, wer nach dieser Messung einen Wert von „Null“ erreicht? Richtig, Oskar Lafontaine. Und wer steht ganz oben? Guido Westerwelle mit einem Wert von 100 Prozent. Dahinter reiht sich die gesamte schwarz-gelbe Garde. Erschreckend auch, dass Deutschlands Ökonomen im Schnitt bei 92 Prozent landen. Kein Wunder also, dass es ein breites Bündnis aus Deregulierungsverfechtern geben musste. Fazit:
„Werte in der Größenordnung von 100 Prozent oder knapp darunter sind bedenklich, weil sie darauf hindeuten, dass in allen Politikfeldern weniger Staat gefordert wurde. Da wir heute wissen, dass zumindest auf den Finanzmärkten etwas mehr Regeln wohl besser gewesen wären, deutet dies auf ein gewisses pauschales „Deregulierungs-Vorurteil“ der Experten hin.“
JUL
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.