Wahlnachlese: Warum wählen wir nicht wie in der DDR?

Geschrieben von: am 01. Jul 2010 um 12:54

Wenn man sich das Gekeife von SPD und Grünen so anschaut, die der Linken vorwerfen, sie hätte eine historische Chance vertan, sich von ihrem schwierigen DDR-Erbe zu lösen, wenn sie denn Gauck gewählt hätte, fragt man sich verwundert, welches Verständnis SPD und Grüne von dem Befriff der allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahl eigentlich haben. Was für andere Wahlmänner und Wahlfrauen offenbar gilt, das wurde ja bis zum Erbrechen gestern immer wieder betont, darf für die „Stasi-Linke“ natürlich nicht gelten. Sie hätte sich gefälligst dafür entscheiden müssen, den Kakao zu trinken, durch den sie von SPD und Grünen zuvor gezogen wurde.

Einige Beobachter und Medienvertreter haben sogar angeregt, Wahlen nicht mehr geheim durchführen zu lassen, weil man dann endlich wüsste, wer wie abstimme und so ein Drama wie gestern vermieden werden könne. Da hätte man jetzt auch das beliebte Krisenwort „Transparenz“ nennen können, um die Pointe, die keine ist, abzurunden. Das kann doch nicht ernsthaft in den Köpfen gedacht werden, wenn man gleichzeitig den Linken vorwirft, dass die durch ihr Verhalten nicht über ihre angebliche „Unrechtsstaatsvergangenheit“ hinweggekommen seien. Was war doch gleich eine der Besonderheiten des DDR-Wahlrechts?

  • Wahl per Einheitsliste mit Möglichkeit, Kandidaten zu streichen
  • Zustimmung durch Abgabe eines unmarkierten Stimmzettels
  • Geheime Wahl nicht obligatorisch, aber möglich, offene Wahl erlaubt und propagiert
  • Keine Wahlpflicht, aber starker gesellschaftlicher Druck

Quelle: Wahlrecht.de

Ein bisschen kam mir das gestern so vor, je öfter betont wurde, wie frei die Wahlmänner und Frauen doch wären und wie toll die Demokratie doch funktioniere. Am Ende ist aber das eingetreten, was auch zu erwarten war. Das schwarz-gelbe Lager hat die absolute Mehrheit geliefert und das lag nicht an einer demokratischen Entscheidungsfindung, sondern an dem politischen Kalkül aller Beteiligten. Es ging um Machtspiele, mehr nicht. Ich kann daher gar nicht verstehen, wie berauscht Hans-Ulrich Jörges von der Stern-Chefredaktion bei hart aber fair von einem tollen Tag für die Demokratie faseln konnte, wenngleich er richtig feststellte, dass die Nominierung Gaucks ein bewusster Schachzug von SPD und Grünen gewesen sei, um die amtierende Regierung in die Bredouille zu bringen.

Jörges bleibt einfach eine dumme Nuss, wenn es darum geht, die Geschehnisse, an denen er vorgibt immer ganz nah dran zu sein, richtig zu reflektieren. So wusste er zum Beispiel keine Antwort auf die Frage, warum Gauck in kürzester Zeit überhaupt so beliebt werden konnte. SPD und Grüne beriefen sich auch argumentativ immer wieder auf Gaucks angebliche Beliebtheit. Jörges checkt das einfach nicht. Die stattfindende Medienmanipulation hatte er ja bereits bei einer Podiumsdiskussion mit Albrecht Müller und Oskar Lafontaine in der Berliner Kulturbrauerei letztes Jahr (siehe hier im Blog) vehement geleugnet. Es steht aber außer Frage, dass die Springer-Presse und im Zuge dessen auch alle anderen Medien, den Gauck-Hype erfanden und übernahmen, während Sigmar Gabriel das Gauckler-Produkt für seine Partei vom Chefredakteur der Welt einkaufte. Die Zustimmung in der Bevölkerung ist durch PR-Arbeit somit auch nur erkauft worden, überzeugt hat das aber in der Realität kaum jemanden (siehe Jens Berger, Spiegelfechter). Dennoch tun vor allem SPD und Grüne so, als hätten sie über Nacht einen Volksliebling aus dem Hut gezaubert.

Das ist Blödsinn. Morgen ist Gauck ganz schnell wieder vergessen, weil es einfach keine Sau interessiert, was Gauck vor zwanzig Jahren dachte, als er zum ersten Mal wählen durfte. Was steckt denn da als politische Botschaft dahinter? Wem hilft denn ein moralisierender Präsident, der die Freiheit beschwört, die Erfahrung aber gleichzeitig lehrt, dass die politisch gewährte und immer noch propagierte Freiheit des Kapitals den Staat, die Gesellschaft und die Existenz vieler zerstört und damit den persönlichen Freiheitsbegriff verändert, ohne dass sich Konsequenzen daraus ergeben würden. Das hat mich schon am letztem Präsidenten gestört, der ja noch als Wirtschaftsfachmann galt. Der sprach auch nur von Monstern und einem moralischem Versagen einzelner. Das System selber stellte er nie in Frage, sondern appellierte nur an die Kriminellen, sich doch zum Wohle der Allgemeinheit zu bessern.

Und Wulff? Der stellt sich hin und faselt in seiner ersten Rede von Parallelgesellschaften, die er in seiner Präsidentschaft schwerpunktmäßig verhindern wolle, um einem „aneinander Vorbeileben“ zu begegnen (Wulffs Rede). Dann soll er mal bei der gestrigen Bundesversammlung anfangen. Was bitteschön war das denn anderes als eine Parallelgesellschaft, die sich selbst feiert, während draußen der gesellschaftliche Zusammenhalt auseinanderbricht. Wahrscheinlich wird Wulff ein Prediger im Amt sein, schließlich ist er Kuratoriumsmitglied der evangelikalen Missionsbewegung „ProChrist“, die sich z.B. auch gegen praktizierte Homosexualität ausspricht. Ein geschiedener christlicher Fundamentalist im höchsten Staatsamt. Dazu eine tätowierte First Lady. Was für eine tolle Wahl. :roll:

Und wenn es Gauck geworden wäre? Dann hätte man wohl so schreiben müssen, wie Jörges, der sich einmal vorstellte, wie die Reaktionen von SPD und Grünen wohl ausgefallen wären, wenn die Vorzeichen anders gewesen wären und Union und FDP Herrn Gauck vorgeschlagen hätten. Diese Kolumne von Jörges ist nun wieder sehr gut gemacht…

Quelle: Junge Welt

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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Kommentare

  1. Juni  Juli 1, 2010

    Tolle Demokratie! Jeder darf den Wählen den er will, bis Herr Koch kommt und die Koalition „rettet“.

    Eine SPD wie die von gestern dürfte den „beiden mächtigen Frauen“ nicht unbedingt schlechter Gefallen als FDP und CDU. Sollte es 2011 aufgrund der Neuregellung der Überhangsmandate zu Neuwahlen, kann man wieder auf die alten Marionetten bauen und evt. zu dem Zeitpunkt unbeliebte Physikerinnen fallen lassen.

    • adtstar  Juli 6, 2010

      Im Grunde sind nur noch Regierungskonstellationen mit der Union möglich. Also Schwarz/Gelb, Jamaika oder Schwarz/Rot. SPD, Grüne und FDP buhlen dabei um die Rolle des ersten Juniorpartners. Alle anderen Optionen sind für lange Zeit defacto ausgeschlossen.