Viele Journalisten und die Grünen kritisieren den Koalitionsvertrag auch, weil er keine Vision, kein Projekt und keine Ideen für die Zukunft enthalte, sondern auf teuren Stillstand setze. Das schreiben dann aber dieselben Leute, die es auch für unabdingbar halten, dass der Staat zu jeder Zeit sparen und Verschuldung abbauen müsse. Es passt einfach hinten und vorne nicht zusammen. Wer auf eine irrsinnige Schuldenbremse setzt, ohne zu erklären, wie er den dafür nötigen Zuwachs von Vermögen begrenzen will oder das sogar unter Beifall ausschließt, kann doch nicht ernsthaft eine Vision erwarten.
Dank der Schuldenbremse und des Fiskalpaktes ist die Politik zur Tatenlosigkeit verdammt. Sie hat sich, übrigens auch auf Betreiben einer Großen Koalition, von Gestaltungsmöglichkeiten verabschiedet und dem sinnfreien Ausgabenverbot sogar Verfassungsrang eingeräumt. Welches Projekt sollten die Koalitionäre da noch in Angriff nehmen, ohne gegen die Verfassung zu verstoßen? Es wird wohl noch etwas dauern, bis diese jämmerlich einfache Erkenntnis auch in den Betonköpfen angekommen ist. Konsequent wäre es doch zu fordern, die Schuldenbremse wieder abzuschaffen und jetzt zu investieren, als auf die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu warten.
Die neue Zürcher Zeitung schreibt: Für ausländische Beobachter mutet es kurios an, mit welcher Detailversessenheit die deutschen Parteien ihre Koalitionsverträge aushandeln, als seien diese notariell beglaubigte Rechtsdokumente und nicht letztlich unverbindliche politische Absichtserklärungen. So blieb auch von den hochgemuten Vereinbarungen der schwarz-gelben Vorgängerregierung im Alltag nicht viel mehr übrig als ein Haufen Papier. Doch Sigmar Gabriel will bis zum bitteren Ende „vertragstreu“ bleiben. Man wundert sich nur, dass er keine Kündigungsfrist in den Kontrakt hat einarbeiten lassen, um einen vorzeitigen Ausstieg seiner Truppe zu vermeiden.
Oder gibt es sie mit dem Mindestlohn etwa doch, der ja bekanntlich erst kurz vor der nächsten Wahl überall gelten soll und damit auch als eine Art (Über)Lebensversicherung für die Große Koalition und deren künftige Postenträger fungiert?
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Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.