Der Vertrauensverlust in die Politik ist messbar. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung, über die der Tagesspiegel berichtet, gibt Aufschluss. Demnach haben die drei Regierungsparteien in der Unter- und Mittelschicht der Gesellschaft deutlich verloren. Die Ampel wird inzwischen nur noch von gut Gebildeten und Reichen gestützt. Das ist ein verheerender Befund, auch vor dem Hintergrund der laufenden Proteste gegen den Rechtsextremismus. Sie deuten in keiner Weise auf mehr Zusammenhalt in der Gesellschaft hin, sondern verdecken eher eine immer tiefer werdende Spaltung. Und die hat Gründe.
Die Gesellschaft ist nicht versöhnungsbereit, könnte man kurz und knapp formulieren. Denn beim klassischen schwarz-weiß Schema oder etwas pathetischer ausgedrückt, beim Kampf Gut gegen Böse gibt es kein Dazwischen. Man muss sich für eine Seite entscheiden und dann für die jeweilige Sache mitkämpfen. Eine differenzierte Haltung ist in diesem Setting bereits verdächtig.
Moralische Panik
Wer immer es wagt, sich von dieser aufrüttelnden Botschaft nicht alarmieren zu lassen, der macht sich automatisch verdächtig. Wer nicht der Panik verfällt, ist offensichtlich kein Freund der Demokratie. Damit hat die moralische Panik ihr Ziel erreicht. Die Gesellschaft spaltet sich in genau die zwei Teile, die sie braucht, um ihre Seite in größtmögliche Alarmstimmung zu versetzen.
Und diese größtmögliche Alarmstimmung oder Panik ist notwendig, wenn eine Regierung so dermaßen an Rückhalt verliert, wie Umfragen es aktuell nahelegen. Die Analyse der Bertelsmann Stiftung hat bereits im Oktober 2023 stattgefunden, also lange vor den empörenden Enthüllungen über Konferenzen in Potsdam. Dabei, und das ist interessant, haben die Studienautoren ins sogenannte Sinus-Milieu geschaut, also auf ein Modell der Sozialforschung zurückgegriffen, das sehr akribisch die Entwicklung sozialer Milieus in Deutschland verfolgt und beispielsweise Aussagen darüber zulässt, warum Wahlentscheidungen in die ein oder andere Richtung getroffen werden. Dass diese Erkenntnisse der Regierung bereits vorab zur Verfügung gestanden haben, darf durchaus angenommen werden.
Bei der Wahl 2021 wurden die drei Regierungsparteien laut der Befragung noch in nahezu allen Milieus in ähnlichem Maß gewählt. „Das hat sich seither massiv geändert“, sagt Vehrkamp. Gerade in den niedriger gebildeten und ärmeren Bevölkerungsgruppen haben die drei Koalitionspartner im Schnitt die Hälfte an Zustimmung verloren, insbesondere die SPD ist davon betroffen. Der Verlust in den besser gebildeten, reicheren Schichten fällt deutlich geringer aus. […]
Noch eine andere Erkenntnis besorgt Vehrkamp: Die Forscher haben auch untersucht, welche Parteien die Menschen in keinem Fall wählen würden.
In nahezu allen Milieus lag in dieser Frage bis zur Bundestagswahl 2021 die AfD weit vorn. Das hat sich zumindest teilweise geändert – besonders in der gesellschaftlichen Mitte. „Das bröckelt gerade und in einzelnen Milieus ist die Ablehnung der Grünen sogar schon etwas stärker ausgeprägt als die Ablehnung der AfD“, sagt Vehrkamp. Dies gelte, obwohl die AfD gleichzeitig immer radikaler werde.
Beispiellose Widersprüchlichkeit
In dem, was als gesellschaftliche Mitte bezeichnet wird, breiten sich Verlustängste immer stärker aus. Gleichzeitig wird diesen Ängsten die Legitimation entzogen. Weil es aber nicht gelingt, eine politische Antwort auf reale soziale Probleme zu geben, schwindet wiederum die Hemmung, eine Partei zu unterstützen, die vielfach durch die Behörden als gesichert rechtsextrem eingestuft worden ist. Hinzu kommt eine beispiellose Widersprüchlichkeit im Auftreten und Handeln der Regierungsparteien, die sich über politische Sachverhalte, die sie inzwischen selbst vertreten, moralisch hemmungslos empören, wenn sie von den „Falschen“ geäußert werden. Die Abschiebung von Geflüchteten „im großen Stil“ [sic!] können die „Anständigen“ beschließen und sich gleichzeitig über die Abschiebepläne der Rechten empören, wobei zur Verstärkung der eigenen Hysterie Begriffe wie Deportation und Wannsee-Konferenz unsachgemäß benutzt werden.
Wogegen wird eigentlich demonstriert, fragt daher Jens Berger auf den NachDenkSeiten zurecht in einer Glosse.
Wenn zwei das Gleiche fordern, ist es bekanntlich noch lange nicht Dasselbe. Und wenn diejenigen, die ein „Rückführungsverbesserungsgesetz“ beschließen, zu Demos gegen eine Partei aufrufen, die bessere Rückführungen fordert, ist das kein Widerspruch … zumindest nicht für die braven Bürger.
Man würde nie auf die Idee kommen und sagen, dass der Deutsche Bundestag ein Deportationsgesetz beschlossen hat und das nur wenige Meter, nicht acht Kilometer, vom ehemaligen Führerbunker entfernt. Die Logik, es gibt gute Demonstrationen und schlechte Demonstrationen, gute Konferenzen und schlechte Konferenzen, funktioniert auf Dauer ebenso wenig. So rührt der Vertrauensverlust in die Politik sicherlich auch daher, dass sich heute niemand mehr für die Inzidenz der Affenpocken interessiert, obwohl dieser Erreger vom hochgeschätzten Expertenrat der Bundesregierung zur COVID-19-Pandemie in seiner 21. Sitzung am 24. Mai 2022, offenbar in Ermangelung an glaubhafter Omikron-Dramatik, besorgt besprochen wurde, wie die freigeklagten Protokolle ergeben.
Anekdoten der Wissenschaft
Auch hier würde man abseitige Diskussionen kaum als Schwurbelei von Covidioten bezeichnen, schließlich hat man es mit dekorierten Preisträgern zu tun, die auch gern mal anekdotisch darüber berichten, wie sie im Zug vom zweifellos autorisierten Bahnpersonal zur Vorlage eines gültigen Tickets genötigt wurden, obwohl sie doch gerade mit der Kanzlerin (inzwischen a.D.) telefonierten. Immerhin, so eine Vermutung, blieb der Erzählerin unmittelbarer staatlicher Zwang erspart, da die Null-Covid-Strategie, der Demokratie sei dank, in der persönliche Impfentscheidungen von über 70 Prozent eben keine parlamentarischen Abstimmungen ersetzen, zu diesem Zeitpunkt nicht mehrheitsfähig war.
Aber Anekdote beiseite. Die Wissenschaft sagt auch, dass Haushaltskonsolidierungen, so wie sie jetzt im großen Stil gefahren werden, zu einem Aufstieg extremer Parteien führen müssen, außerdem zu geringerer Wahlbeteiligung und einer zunehmenden politischen Fragmentierung. Ferner wird der bereits bekannte Befund „It’s the economy, stupid“ rundheraus erneuert. Es gibt also einen konkreten Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und Wählerunterstützung. Wird entgegen aller empirischen Befunde und Logik in eine Krise hineingespart und damit die bereits eingetretene Rezession verschärft, schwindet auch das Vertrauen in das jeweilige politische Umfeld. Extreme Parteien profitieren. Daran wird auch der Umstand kaum etwas ändern, dass Asylbewerber bald nur noch Bezahlkarten statt Bargeld erhalten und damit eine weitere Forderung der Rechtsextremen von den „Anständigen“ umgesetzt wird. Die widersprüchliche Doppelmoral ist aller Empörung zum Trotz für alle Milieus leicht erkennbar.
Bildnachweis: Herbert Bieser auf Pixabay
FEB
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.