In dieser Woche wurde darüber berichtet, dass die Abgeordneten des deutschen Bundestags bei einer ganz bestimmten Sachfrage frei nach ihrem Gewissen entscheiden dürften. So etwas käme höchst selten vor. Den Normalfall stelle der sog. Fraktionszwang dar, dem sich das Gewissen des einzelnen Abgeordneten bei Abstimmungen stets unterzuordnen habe. Offiziell ist dann von Empfehlungen die Rede, der ein jedes Mitglied einer Fraktion folgen möge, um die Handlungsfähigkeit des Parlaments zu gewährleisten.
Bei der besagten Entscheidung ging es darum, ob es künftig erlaubt sein soll, im Reagenzglas erzeugte Embryonen vor der Einpflanzung in den Mutterleib auf Erbkrankheiten untersuchen zu dürfen und ggf. auszusortieren.
Um diese Frage, von der nur wenige Menschen betroffen sind, gewissenhaft entscheiden zu können, verzichteten die Mitglieder des deutschen Bundestages auf den üblichen Austausch von Gemeinheiten, wie Zwischenrufe, Gelächter und polemische Redebeiträge. Denn wenn es um eine Gewissensentscheidung gehe, zähle Sachlichkeit und verantwortungsbewusstes Handeln. Ulrike Flach (FDP) eröffnete daraufhin die Aussprache mit folgender Bemerkung:
Drei Gruppen aus allen Fraktionen haben mit Leidenschaft und mit Sachlichkeit um die Unterstützung der Abgeordneten geworben. Anhörungen haben stattgefunden, Experten haben sich geäußert, die Medien haben die Debatte verantwortungsbewusst begleitet. Niemand – das will ich an dieser Stelle sehr deutlich sagen – hat es sich leicht gemacht. Das ist der Bedeutung dieser Entscheidung absolut angemessen.
Quelle: Ulrike Flach (FDP), MdB
Wenn an gleicher Stelle binnen kürzester Zeit über Milliardenhilfen für die Banken, gigantische Rettungsschirme und über knallharte Sparprogramme entschieden wird, also Maßnahmen, von denen deutlich mehr Menschen direkt betroffen sind, dann gilt das mit dem freien Gewissen der Abgeordneten und der sachlichen wie verantwortungsbewussten Abwägung natürlich nicht. Wenn die Bundesregierung durch das Parlament unter Aufgabe des eigenen Budgetrechts ermächtigt wird, dauerhaft Steuergelder für oben genannte Zwecke zu verwenden, entscheidet nicht das Gewissen und auch nicht der Kopf, in dem man es vermuten würde, sondern die innere Gehorsamkeit gegenüber dem Fraktionsführer. Der Deutsche folgt halt noch immer blind dem Führer und nie seinem Gewissen.
Dabei hatten sich die vielen Väter und wenigen Mütter des Grundgesetzes bewusst Gedanken darüber gemacht, wem die Abgeordneten eines künftigen deutschen Parlaments zu folgen hätten. Sie wussten doch nur zu genau, dass es eine bürgerliche Mehrheit war, die erst Hitler zur Macht verholfen und sich selbst später per Abstimmung aller parlamentarischen und demokratischen Rechte beraubt hat.
Georg Schramm: Weil wir gerade bei 1933 waren, sollten wir uns in Erinnerung rufen, wie die deutsche Regierung damals auf die Weltwirtschaftskrise reagierte: mit dem Gesetz zur Beseitigung von Not und Elend des Volkes, verabschiedet am 24. März 1933, bekannt geworden als Ermächtigungsgesetz, das die demokratischen Rechte außer Kraft setzte. Das bürgerliche Lager, inklusive Adenauers Zentrum und dem liberalen Theodor Heuss, haben damals zugestimmt. Der Grund für diese Zustimmung ist rückblickend ungeheuerlich: Hitler hatte ihnen versprochen, die Funktion des Reichspräsidenten Grußaugust Hindenburg zu erhalten.
Quelle: Financial Crimes Deutschland
Der entsprechende Artikel im Grundgesetz lautet so:
Art 38, Grundgesetz
(1) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.
Leider wird darüber eher müde lächelnd hinweggeblickt und so getan, als breche gleich das große Regierungschaos aus, wenn jeder im Bundestag so abstimmen könnte, wie er wollte oder genauer gesagt, wie es das Grundgesetz von ihm oder ihr verlangt. Was aber dabei herauskommt, wenn alle so abstimmen, wie es der Rollenverteilung (Regierungsparteien, Oppositionsparteien) entspricht, kann man immer dann erleben, wenn das Bundesverfassungsgericht mal wieder zu dem Ergebnis kommt, dass durch den Bundestag beschlossene Gesetze grundgesetzwidrig sind. (Man kann auch das Beispiel der plötzlichen Wende in der Atomkraftfrage nehmen)
Aktuell müssen sich die Verfassungshüter mit der Griechenland-Hilfe und dem Euro-Rettungsschirm beschäftigen. Dabei geht es erneut um die Frage, ob die Rechte des Parlaments gewahrt wurden, als sich die Bundesregierung nach kurzer Debatte durch eine Mehrheit ermächtigen ließ, über Milliarden an Steuergeldern frei verfügen zu dürfen. Der Prozessbevollmächtigte des Deutschen Bundestages, Prof. Dr. Franz Mayer von der Universität Bielefeld hat in der am Dienstag stattgefundenen mündlichen Verhandlung die Vorwürfe der Beschwerdeführer wie folgt zurückgewiesen:
Die Beschwerdeführer würden sich auf ein neuartiges Recht berufen, das bisher gar nicht existiere, nämlich ein umfassendes Grundrecht auf Demokratie. Für die Anerkennung eines solchen Grundrechts und eine damit verbundene Ausweitung der Möglichkeiten zur Verfassungsbeschwerde gebe es aber keinen Anlass. Die rechtlichen Vorgaben zur Beteiligung des Bundestages seien eingehalten worden und die Durchführung eines den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden Gesetzgebungsverfahrens in kürzester Zeit gerade ein Ausweis für die Leistungsfähigkeit des Bundestages in Krisenzeiten.
Quelle: Deutscher Bundestag
Demokratie sei ein neuartiges Grundrecht, das bisher gar nicht existiere. So gesehen kann der Bundestag im Prinzip auch geschlossen werden. Das lästige Gewissen dürfen sich die Leistungsträger beim Pförtner wieder abholen und unbeschädigt mit nach Hause nehmen.
JUL