Manchmal hat man den Eindruck, der Verstand einiger befindet sich im Dauerurlaub. Die Bundesregierung zahlt Ärzten Schulungen, damit die unnütze Zusatzleistungen an Patienten verticken können. Gleichzeitig werden Panzer nach Katar und Saudi-Arabien verkauft, weil es sonst jemand anderes machen würde und dann deutsche Arbeitsplätze gefährdet wären. Und in London wird neuerdings „zurückgeritten„.
Mir scheint, als würde der alberne Blick auf den Medaillenspiegel einerseits und in die neoliberale Bibel andererseits dazu beitragen, auch die letzten kümmerlichen Reste des Verstandes auszuschalten. Und die Beispiele reißen nicht ab. Röslers Klientel-Ministerium schont die Industrie vor zu hohen Abgaben. Es gilt auch weiterhin der neoliberale Grundsatz, wer am meisten Strom verbraucht, erhält Rabatte, wohingegen diejenigen, die nicht nur freiwillig Energie einsparen, sondern dazu inzwischen gezwungen sind, mit höheren Steuern und Aufschlägen bestraft werden.
Der Innenminister noch so eine Leuchte im Kabinett Merkel, aber nicht nur wegen seiner Personalpolitik – erklärt nun öffentlich, die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts nach einer Gleichbehandlung von Asylbewerbern werde auch weiterhin wie selbstverständlich von der Bundesregierung ignoriert.
Seine CDU-Kollegin, Sozialministerin Ursula von der Leyen, werde diese aber so ausrechnen, dass der Abstand zu Hartz IV gewahrt bleibe.
Gleichzeitig spuckt die deutsche Presse einmal mehr Gift und Galle, weil sich auf europäischer Ebene eine Allianz gegen die vermeintliche deutsche Rettungspolitik formiere. Ohne den Blick fürs Offensichtliche, nämlich dem Versagen von Merkel und ihrer Regierung, zu der auch SPD und Grüne gehören, werfen sich die journalistischen Resteverwerter und Redaktionsverweser der Kanzlerin bedingungslos an den Hals, um sie zu verteidigen. Eine Staatenfinanzierung über die Zentralbank oder den ESM mit Bankenlizenz sei ein unkalkulierbares finanzielles Risiko heißt es da großspurig und ahnungslos zugleich. Einen Satz mit Informationen darüber, was Europa der Merkelsche Eiertanz in Brüssel bis jetzt schon gekostet hat, sucht man hingegen vergebens.
Kritiklos wird die amtliche Regierungspropaganda übernommen, wonach eine direkte Staatenfinanzierung bloß dazu einladen würde, Reformbemühungen schleifen zu lassen. Welche Reformen? Race to the bottom? Beggar-thy-neighbour? Es sind dieselben Leute, die ungeachtet der Proteste auf den Straßen von Madrid und Athen vor allem Unruhen an den Finanzmärkten befürchten und diese bei jeder Gelegenheit voraussagen, um Entscheidungen in ihrem Sinne zu erpressen. Nur warum soll es aber gerecht sein, dass Deutschland seine Schulden zum Nulltarif finanziert und andere Länder untragbare Zinsen zahlen müssen?
Leute mit funktionierendem Verstand würden den Fehler in folgendem Satz sofort erkennen: Die EZB ist unabhängig, der direkte Ankauf von Staatsanleihen ihr aber verboten! Nicht so in Deutschland, dem Land der vermeintlichen Denker, wo neben dem unerschütterlichen Glauben an Merkels Können auch die Überzeugung fest verankert ist, dass Preisstabilität und ausgeglichene Haushalte wichtiger seien, als volkswirtschaftliche Vernunft. Die sprichwörtliche Unabhängigkeit der EZB gilt immer nur dann, wenn sie im Sinne der Monetaristen ihre Kompetenzen nicht überschreitet.
Das ist natürlich lächerlich, zumal die Alternative dazu lautet, den absurden Zinsdruck der Märkte einfach weiter hinzunehmen. Das aber konterkariert bereits die Logik politisch verordneter Austerität. Selbst wenn es gelänge im Haushalt etwas einzusparen, trieben die Kosten für den Zinsdienst die Verschuldung unweigerlich nach oben. Wenn das aber klar ist, müssten sich die deutschen Reformfetischisten nicht schon an dieser Stelle die Frage von oben stellen, ob nicht die Gefahr eines Schleifenlassens bestehe, wenn man den Defizit-Staaten eine derartige unmögliche Mission auferlegt?
Doch die deutsche Presse tut so, als gäbe es nicht die dutzenden Negativbeispiele, seit Merkel ihr Rettungszepter schwingt. Da wird zwar immerhin registriert, dass die verordnete Medizin zu einem Einbruch der volkswirtschaftlichen Leistungsfähigkeit geführt hat, also falsch gewesen sein muss, doch ein Umdenken findet nicht statt. Jetzt müsse halt der Auszug folgen, weil der offenbar nur geduldete Mitbewohner im europäischen Gemeinschaftshaus beim Einhalten der neoliberalen Hausordnung nicht mehr mithalten kann.
So ist aus einem vernünftigen Gedanken, das vom Krieg zerstörte und tief gespaltene Europa unter einem Dach in Frieden und Partnerschaft zu vereinen, eine zerstrittene Irrenanstalt geworden, in der vor allem die deutsche Mietpartei den Ton angibt. Das erklärt auch, warum Auszugsszenarien für einige ihren Schrecken verloren haben. Denn nur Verrückte haben keine Angst vor einem Einsturz des Gebäudes, in dem sie leben.
Dabei war es Kant, der einmal sagte, wage dich deines Verstandes zu bedienen. Wenn er allerdings mit ansehen müsste, wie politische Gestalten einer Splitterpartei, die sich Liberale nennen, im 21. Jahrhundert Schreckliches tun, mit der Begründung, weil es sonst jemand anderes täte, er würde annehmen, seine Zeit wäre stehengeblieben und der ideologische Kampf um Macht und Einfluss habe nie ein Ende gefunden.
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AUG