Spiegel Online und die Hartz-IV Verfahrensflut

Geschrieben von: am 11. Jan 2011 um 16:59

Verfahrensflut – Klagewelle gegen Hartz IV erreicht neuen Höhepunkt, heißt es auf Spiegel Online. In der Einleitung steht dann.

Die Sozialgerichte werden mit Hartz-IV-Klagen förmlich überrannt: Allein beim bundesweit größten Sozialgericht gingen 2010 fast 32.000 neue Beschwerden ein – rund ein Fünftel mehr als im Vorjahr. Die Hälfte der Kläger gewinnt ihren Rechtsstreit.

Hätte dann die Überschrift nicht anders lauten müssen? Die eigentliche Nachricht ist doch nicht die, dass es eine gestiegene Verfahrensflut gebe, sondern dass ziemlich viele Bescheide über das Existenzminimum offenbar immer noch falsch sind. Wenn 50 Prozent der Kläger vor Gericht Erfolg haben, heißt das doch ganz klar, dass etwas in den Jobcentern gehörig schief läuft.

Wenn der einfach gestrickte Leser aber nur die Überschrift Klagewelle gegen Hartz-IV erreicht neuen Höhepunkt liest, könnte er auch spontan der kürzlich geäußerten Auffassung des rechtspolitischen Sprechers der CDU-Landtagsfraktion Brandenburg, Danny Eichelbaum, zustimmen, dass man eine Gebühr bei Hartz IV Klagen einführen sollte, um die Klageflut einzudämmen. Eichelbaum begründete seinen Vorstoß übrigens damit, dass es seiner Meinung nach viele unbegründete Klagen von ALG II Empfängern gäbe.

“Es gibt viele offensichtlich unbegründete Klagen von ALG II Empfängern”, so der Christdemokrat. Seiner Meinung nach sollte in der ersten Instanz bei den zuständigen Sozialgerichten eine pauschale Gebühr erhoben werden. Ihm schweben in diesem Zusammenhang 75 Euro pro Klage vor.

Gerichtsgebühren würden Eichelbaum zufolge die Hemmschwelle senken, die Sozialgerichte mit der Einreichung erfolgloser Klagen zu überschwemmen. Zehn bis Zwanzig Prozent der Klagen wären nämlich unbegründet.

Quelle: Sozialleistungen.info

Dabei nimmt der CDU-Politiker in seiner geistigen Umnachtung eine noch höhere Zahl an fehlerhaften Bescheiden an, nämlich 80 bis 90 Prozent. Das grenzt mal wieder an Volksverdummung, an der sich auch andere Medien beteiligen.

4

Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
  Verwandte Beiträge

Kommentare

  1. madFox  Januar 11, 2011

    Hallo,

    wenn es nach mir ginge, wären alle Rechtsstreitigkeiten kostenlos, um das Aushungern von finanziell Schwachen zu vermeiden.
    Recht haben und Recht bekommen könnten im Idealfall identisch sein.
    Denn wenn Geld über Recht regiert, ist der postulierte Rechtsstaat nur noch eine Karikatur.
    Auch der Gleichheitsgrundsatz hätte mehr Gewicht.
    Für Bagatellstreitigkeiten wären nicht einmal Juristen notwendig, so daß deren Belastung begrenzt bliebe.
    Es wäre also machbar.

    Alles Gute

  2. Careca  Januar 11, 2011

    Und wieder zeigt es sich, dass dem SPIEGEL seine Zahlen unreflektiert geglaubt werden, statt einfach mal den Rechenschaftsbericht der BUNDESAGENTUR FÜR ARBEIT zu lesen:

    Von drei …
    (in Zahlen „3“, in englisch „three“ in deutsch „drei“)
    … Widersprüchen …
    (SPIEGELsprachtümlich als „Klagen“ bezeichnet)
    … werden zwei …
    (auch hier zur Verdeutlichung in Zahlen „2“, in englisch „two“ in deutsch „zwei“)
    … Widersprüche vor dem Sozialgericht zu Lasten der BUNDESAGENTUR FÜR ARBEIT abgewiesen!

    Fehlerquote: 66%!!!
    Das würde keine marktwirtschaftliche Firma überleben!

    Gewinner der 66% sind auch keineswegs die Kläger, wie man vordergründig meinen könnte, sondern die Banken, weil durch deren Hände entsprechende Finanzgelder laufen.
    Aber das will ja niemand berichten. Ist ja unkoscher, weil noch nicht total ausgeblutet. Fragt sich nur wer dabei blutet: Nur der Kunde (=Leistungsbezieher) oder auch noch der Steuerzahler.

    Wer weiß, dass die Kunden der BUNDESAGENTUR FÜR ARBEIT durch unmotivierte Leiharbeiter im Auftrage der BUNDESAGENTUR FÜR ARBEIT abgespeist werden, der weiß, was da vorsätzlich betrieben wird. Vorsätzlich betriebene Stigmatisierung und Demütigung der Kunden.

    Nein. Das entspricht nicht den ideologischem Hirn meinereienrseits, sondern den Fakten. Jene 66%-Quote ist beim Rechenschaftsbericht der BUNDESAGENTUR FÜR ARBEIT im Internet nachzulesen und die Stigmatisierung und Demütigung der Kunden ist eine real existierende Erfahrung der Kunden der BUNDESAGENTUR FÜR ARBEIT (Kindergeld, Arbeitslosengeld, ARGE, STGB-Verordnungen etc. etc.) in diesem unserem real existierenden Demokratismus bestimmt durch neoliberale Presse. Dazu gehört auch der SPIEGEL.
    Wer sich auf deren Zahlen verlässt, der ist verlassen. Der badet geistig in Eselsmilch. Und wer deren Zahlen verbreitert, sorgt für die Bestätigung folgenden Spruchs: „Scheiße in der Zeitung findet weiteste Verbreitung“.
    :(

    • Careca  Januar 11, 2011

      Ich hatte ein Adjektiv bei dem Begriff „unmotivierte Leiharbeiter“ vergessen. Es heißt „kompetenzunzulängliche“, weil diese oft nur in Crash-Kurse auf die Gesetzestexte getrimmt werden und später kaum Zeit finden sich zu Spezialisten zu mausern. Daher die vermeintliche „Verfahrensflut“ (warum nicht gleich den Begriff „Tsunami durch gerichtswütige Streiithansel“ nutzen).
      Und der vergessene Schlussssatz:
      Ich bin sauer daüber, dass immer noch nicht erkannt werden möchte, wer die Profiteure dieser seltsamen SGB-II-Gesetzgebung sind.
      Cui bono?
      Bei Rente für 67 kommt jeder drauf, dass dann das Schlagwort „Versicherungslücke“ der Versicherungswirtschaft helfen soll. SGB-II ist eine vorsätzliche zinsfreie Darlehensgesetzgebung zu Gunsten der Banken und zu Ungunsten derjenigen, die eh nichts haben. Da wird versucht ein „Perpetuum Mobile ersten Grades“ für Staatsbereiche und Organisationen zu erschaffen.

    • adtstar  Januar 12, 2011

      Fairerweise sollte man dazu sagen, dass der Bericht im Wesentlichen nur eine Übernahme der entsprechenden Agenturmeldung ist, die man auch woanders genauso wiederfindet. Also inhaltlich liegt hier wohl keine eigenständige Fehlleistung beim Übertragen der Vorlage durch den Spiegel-Redakteur (ssu, Stefan Schultz) vor. Mit Ausnahme der selbst verfassten Überschrift und der Botschaft, die damit offensichtlich transportiert werden soll, obwohl die eigentliche Nachricht eine andere ist.

      Tsunami finde ich übrigens gut. Das hätte wohl auch gepasst.