Seit sieben Jahren kommt in diesem Land mit der ALG-II-Regelung ein verfassungswidriges Gesetz zur Anwendung. Zu diesem Ergebnis kamen die Richter des Bundesverfassungsgerichts im Februar 2010. Bis zum Jahresende sollte der festgestellte Verstoß gegen Artikel 1 Grundgesetz (Menschenwürde) und Artikel 20 GG (Sozialstaatsprinzip) im Rahmen einer an der Wirklichkeit orientierten Neuberechnung der Hartz-IV-Sätze beseitigt werden. Die bisherigen Bemühungen der zuständigen Ministerin Ursula von der Leyen sind kaum erkennbar. Zwar hat sie für das kommende Jahr höhere Ausgaben für Öffentlichkeitsarbeit im Bundeshaushalt angemeldet, über die Neuberechnung der Regelsätze dringt nun aber recht wenig nach außen. Dabei wird es langsam eng.
Doch was passiert eigentlich, wenn die Regierung bis zum Jahresende kein neues Gesetz vorlegt? Wird Frau von der Leyen dann in Gewahrsam genommen oder die Amtszeit der schwarz-gelben Minderheitsregierung für beendet erklärt? Nein. Es passiert natürlich nix. Die Bundesrichter hatten das ja im Februar ganz toll geregelt:
Sollte der Gesetzgeber allerdings seiner Pflicht zur Neuregelung bis zum 31. Dezember 2010 nicht nachgekommen sein, wäre ein pflichtwidrig später erlassenes Gesetz schon zum 1. Januar 2011 in Geltung zu setzen.
Quelle: BverfG
Theoretisch könnte die Bundesregierung den verfassungswidrigen Zustand auch über das Jahresende hinaus andauern lassen, falls man noch keine adäquate Methode gefunden hat, die Regelsätze wirklichkeitskonform herunterzurechnen. Möglicherweise wächst der Niedriglohnsektor auch noch ein wenig, so dass die Bedarfssituation der unteren Einkommensgruppen, die ja zur geforderten transparenten Berechnung herangezogen werden sollen, noch etwas nach unten rutscht.
Möglicherweise führt dann ja ein Gesetz, das rückwirkend zum 1. Januar 2011 wirksam wäre dazu, dass viele Hartz-IV-Bezieher etwas zurückzahlen müssen, weil sie nach dem dann gültigen Stand überzahlt worden sind. Was für eine Vorstellung. Aber bei dem Pannenkabinett ist ja nichts unmöglich.
Nun ist aber doch ein wenig über die Pläne der Ministerin an die Öffentlichkeit gedrungen. So zum Beispiel der Vorschlag, dass sich die künftige Höhe der Regelsätze an der Preis- und Nettolohnentwicklung orientieren solle und nicht mehr an der Entwicklung der Renten. Das ist jetzt natürlich ein Riesenfortschritt. Da hat man einfach das Urteil gelesen (immerhin nach 7 Monaten) und das Verfahren lediglich dem Wortlaut der Richter angepasst.
Die Faktoren aber, die das für die Bildung der Regelleistung maßgebliche Verbrauchsverhalten des untersten Quintils bestimmen, namentlich das zur Verfügung stehende Nettoeinkommen und die Preisentwicklung, spielen bei der Bestimmung des aktuellen Rentenwerts keine Rolle. Er ist deshalb zur realitätsgerechten Fortschreibung des Existenzminimums nicht tauglich.
Quelle: BverfG
Jetzt muss Frau von der Leyen es nur noch schaffen, mit Hilfe dieser neuen Betrachtungsmethode weniger oder den gleichen Geldbedarf herauszubekommen, der bisher als Leistungsatz den Bedürftigen zugestanden wird. Und der große Wurf wäre perfekt. Denn laut der Richter kommt es ja nur darauf an, dass die Berechnung des Existenzminimums transparent und wirklichkeitsnah geschehe. Denn nur die unbegründete Abweichung von dieser Methode sei ein Verstoß gegen die Menschenwürde. Bei der Festlegung des Existenzminimums habe der Gesetzgeber hingegen nach wie vor gestalterische Freiheit. Und die Regelsätze seien ja „im Allgemeinen nicht evident unzureichend“, so die Richter in ihrem Urteil.
Da bin ich aber doch gespannt, wie die untersagten „Schätzungen ins Blaue“ mit der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers in Einklang gebracht werden können. Die bisherige Politik dieser Bundesregierung bestand doch nur aus derartigen Schüssen ins Blaue ohne Sinn und Verstand.
SEP
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.