Rasante Aufschwungkrise

Geschrieben von: am 12. Jan 2011 um 14:43

Tage und wochenlang haben die wenigstens 100 Mathematiker des statistischen Bundesamts Tabellen gewälzt und hin und her gerechnet. Nun haben sie das Ergebnis. Das deutsche Bruttoinlandsprodukt steigt im abgelaufenen Jahr um satte 3,6 Prozent, so stark wie seit der Wiedervereinigung nicht mehr, wie es gleich als erstes heißt. Aber zunächst zur Überschrift:

Deutsche Wirtschaft 2010: Rasanter Aufschwung nach der Krise

Und Brüderle, der zuständige Minister für’s Wachstum, legt gleich mit der frohen Botschaft nach:

„Höchstes Wachstum seit der Wiedervereinigung führt zu Beschäftigungsrekord“

Dabei hätte er auch sagen können: Höchstes Wachstum seit der Wiedervereinigung führt zu Defizitrekord. Denn auch das steht in der Meldung der Statistiker:

Der Staatssektor wies im Jahr 2010 nach noch vorläufigen Berechnungen ein Finanzierungsdefizit in Höhe von 88,6 Milliarden Euro auf. Gemessen am BIP in jeweiligen Preisen errechnet sich daraus eine Defizitquote von 3,5%. Nach leichten Überschüssen in den Jahren 2007 (+ 0,3%) und 2008 (+ 0,1%) sowie einer Defizitquote von 3,0% im Jahr 2009 würde der im Maastricht-Vertrag genannte Referenzwert von 3% des BIP damit im Jahr 2010 erstmals seit fünf Jahren wieder überschritten.

Das ist doch komisch mitten im Aufschwung. Aber nicht für Rainer Brüderle. Für ihn, wie auch für die Statistiker ist nur entscheidend, dass es rasant nach oben geht. Brüderle sagt:

„Das war der größte Anstieg des Bruttoinlandsprodukts seit der Wiedervereinigung. Besser als bei uns lief es in keinem anderen großen Industrieland.“

Richtig, es lief ein Jahr davor auch in keinem anderen großen Industrieland schlechter. Wir können ja nicht nur den größten Anstieg innerhalb der EU vorweisen, sondern auch den größten Einbruch! Wie war das doch gleich letztes Jahr? Mit einem preisbereinigten Minus von 4,7 Prozent ging es nach unten. Nun geht es um 3,6 Prozent (preisbereinigt um 3,5 und damit nix mit Rekord) nach oben. Unterm Strich bliebe also das Minus, bedingt durch einen Aufhol-, nicht Überholprozess, wie Brüderle meint und das statistische Bundesamt suggeriert.

Propagandaminister Brüderle legt aber noch einen drauf.

„Die realen verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte nahmen 2010 so stark zu wie seit 2001 nicht mehr. Dies stützt die binnenwirtschaftlichen Auftriebskräfte.“

Warum stiegen denn die real verfügbaren Einkommen? Weil die Beschäftigten, die in 2009 in die teure Dauerkurzarbeit zu niedrigeren Einkommen ausgelagert wurden, nun wieder ihren normalen Lohn erhalten. Ein lausiger statistischer Effekt, den Brüderle da beschreibt und als großen Einkommenszuwachs der privaten Haushalte verkaufen will. Das geht über den Tatbestand der vorsätzlichen Täuschung noch weit hinaus.

„Die Beschäftigung hat im vergangenen Jahr ein Rekordniveau erreicht und liegt auf dem höchsten Stand seit der Wiedervereinigung. Unser Land nimmt Kurs auf Vollbeschäftigung.“

Vor allem hat die Leiharbeit mit knapp einer Million Beschäftigten auf Abruf ein Rekordniveau erreicht. Das wird sich 2011 fortsetzen. Aber was ist denn nun mit dem Aufschwung. Bleibt er oder geht er. Die falsch deutenden Statistiker verraten sich mit einem Satz.

Die wirtschaftliche Erholung fand hauptsächlich im Frühjahr und Sommer 2010 statt.

Und was war im Herbst und im Winter? Keine Erholung? Stagnation? Rezession? Man hätte also auch schreiben können: Die wirtschaftliche Erholung hat sich in den letzen beiden Quartalen nicht fortgesetzt oder hat sich abgeflacht, wie das schon in den Berichten steht, die zum Beispiel vom Finanzministerium monatlich herausgegeben werden. Jedenfalls wird sich das nicht fortsetzen, was im Frühjahr und im Sommer stattgefunden hat. Das ist die eigentliche Nachricht.

Wir haben keinen Aufschwung XXL, sondern eine Aufschwungkrise. Richtig wäre es, auch darauf hinzuweisen, dass der nächste Absturz um einiges schlimmer enden könnte, als der von 2009.

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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