Protokollfehler

Geschrieben von: am 24. Mrz 2011 um 20:32

Mal wieder ein Verständnisproblem. Was der Protokollant verstanden und was eigentlich gemeint war, soll angeblich nicht übereinstimmen. Der BDI springt dem Bundeswirtschaftsminister bei und behauptet, dass Herr Brüderle in einer Sitzung mit den großen Energiebossen falsch zitiert worden sei. Ein Übersetzungsfehler sozusagen. Das könnte man noch nachvollziehen, aber was er nun genau gesagt hat, ist scheinbar nicht mehr feststellbar. Viel spannender ist doch die Frage, was der Bundeswirtschaftsminister Brüderle bei den Spitzen der Industrie überhaupt zu besprechen hatte. Oder wurde er besprochen?

Es soll sich ja um eine Sitzung des BDI-Vorstands bzw. Präsidiums gehandelt haben, an der auch die Vorstandschefs der Energiekonzerne RWE und Eon, Jürgen Großmann und Johannes Teyssen teilnahmen. Letzterer ist nach Bekanntgabe des Moratorium-Beschlusses durch die Bemerkung aufgefallen, nach drei Monaten begänne das Spiel mit der Bundesregierung und um die Atomkraftwerke neu. Es liegt also nahe, zwischen dieser Äußerung Teyssens und der angeblich nie abgegebenen Versicherung Brüderles, nur wegen der Landtagswahlen irrational, um nicht zu sagen berechnend, entschieden zu haben, einen Zusammenhang herzustellen.

Die Mitglieder der Bundesregierung sind schon famos. Der eine klaut jedes Zitat, das er kriegen kann und deklariert es als eigene Leistung und der andere lässt sich partout nicht zitieren. Er sagt auch nicht, wie er sich denn gern verstanden wissen möchte. Auf wikipedia findet man auch nur einen überlieferten Satz Rainer Brüderles, zu dem er wahrscheinlich auch heute noch kompromisslos steht.

„Wer nichts trinkt, ist verdächtig.“

Und über all dem schwebt die Kanzlerin der mit sprachmissbräuchlicher Klarheit ausgedrückten sachlichen Unverbindlichkeit. Mit der christlich-liberalen Koalition werde es keine Vergemeinschaftung der Schulden innerhalb der Eurozone geben, so die Chefin heute im Bundestag. Wohlwissend, dass die Exportfixierung Deutschlands und damit die weiter steigenden Bilanzüberschüsse ja schlussendlich zu neuen und höheren Defiziten im Rest der Eurozone führen müssen. Insofern hat Merkel recht, wenn sie garantiert, dass keine Vergemeinschaftung der Schulden stattfinden werde, weil Deutschland nach gegenwärtigem Stand am Ende allein auf sämtlichen Schulden sitzen bleiben und der Rest Europas damit beschäftigt sein wird, die Forderungen deutscher Banken zu bedienen.

Auch sie könnte im Nachhinein einen Protokollfehler geltend machen, wenn alle anhand der Zunahme deutscher Verpflichtungen bei der Rettung ganzer Staaten behaupten, die Merkel habe das Wahlvolk mit Ansage belogen und betrogen.

Was hat Brüderle denn schon gesagt? Er hat nur das etwas verständlicher wiedergegeben, was Merkel und Westerwelle bei Verkündigung des Moratoriums verklausuliert auch schon gesagt hatten. Das Moratorium sei eine befristete Aussetzung der Laufzeitverlängerung für drei Monate. D.h., dass die Kraftwerke, die vorübergehend vom Netz gegangen sind, zum größten Teil auch wieder laufen werden, weil nach Auffassung der Bundesregierung ohnehin keine Sicherheitsbedenken bestehen.

Okay, es wurde gesagt, Japan habe die Lage verändert und nichts werde so sein wie vorher. Aber konkret kann das auch bedeuten, dass die Sicherheitsprüfer sowie die neue Regierungskommission zu einem Ergebnis gelangen, wonach deutsche Atomkraftwerke weder durch die für Europa typischen Erdbeben noch für die Nord- und Ostsee typischen Sturmfluten bedroht seien. Vielleicht lässt sich das alte SPD-Schlitzohr Dohnanyi sogar zu der Bemerkung hinreißen, dass Deutschland im Gegensatz zu Japan nicht auf einer Insel liege. Im Falle eines regionalen GAUs wäre somit die Evakuierung ganzer Landstriche dank EU-Osterweiterung und Dank des Sieges des Kapitalismus über den Kommunismus problemlos möglich.

Die Protokolle dieses Gremiums zur Auslagerung parlamentarischer Entscheidungen möchte man gar nicht erst präsentiert bekommen. Hätten wir hingegen noch eine funktionierende Volksvertretung, müssten die Parlamentarier nach Artikel 67 GG der gewählten Bundeskanzlerin das Misstrauen aussprechen und dafür Sorge tragen, dass ein Nachfolger gewählt wird, der oder die die Rechte des Parlaments wieder ernst nimmt. Herr Lammert täte also gut daran, seine berechtigte Sargnagel-Rhetorik der letzten Tage in ein konstruktives Misstrauensvotum zu verwandeln und die Mitglieder seines Hauses zu ermuntern, der beinahe diktatorischen Willkür der Regierung einen Riegel vorzuschieben. In Portugal hat das gerade wieder funktioniert.

Das wäre wenigstens eine demokratische Antwort auf den Irrsinn der Exekutive in diesem Land. Leider verstehen sich viele Parlamentarier nicht mehr als Teil einer mit Bedacht gewählten Gewaltenteilung, sondern entweder als Mitglieder der Regierung oder der Opposition. Mit diesem Rollenverständnis sind sie aber nicht mehr als Abnicker und Statisten, die im fingierten Schlagabtausch der Öffentlichkeit ein wenig Demokratie vorspielen.

Am Ende ist es egal, was in einem Protokoll steht, denn wer schon die Verfassung nicht ernst nimmt, braucht sich über angebliche Protokollfehler nicht beklagen.

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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