Griechenland möchte Moscovici-Plan

Geschrieben von: am 18. Feb. 2015 um 10:58

Es ist kaum zu glauben. Da melden die deutschen Medien heute, Griechenland habe sich quasi ergeben, weil es nun doch einen Antrag auf Verlängerung des Hilfsprogramms stellen will. Ich bin wirklich entsetzt über diese Fehlleistung der Kollegen, die nicht einmal erklären können oder wollen, wie es zu dem Sinneswandel kam. Einige meinen wohl, das Ultimatum hätte gewirkt. Die Griechen sehen keinen Ausweg mehr. Das ist natürlich alles Quatsch.

Das Ultimatum hat die griechische Seite nicht im Geringsten geschockt. Enttäuscht war man über den Rückzieher der Eurogruppen-Finanzminister, die auf Druck Berlins ein bereits vorliegendes Kompromisspapier des EU-Währungskommissars Pierre Moscovici wieder einkassiert hatten. Diesen Vorgang macht die griechische Regierung nun öffentlich, wie Eric Bonse erfahren hat. Die Zustimmung Athens wird sich dann auch auf dieses Papier beziehen und nicht auf den “Weiter-So-Blödsinn”, den Schäuble und Dijsselbloem erneut vorlegten.

Von einem Kurswechsel, wie viele Medien nun schnappatmend meinen, kann also keine Rede sein. Eher von der Wiederbelebung eines guten Vorschlags, über den Schäuble im Rahmen der Finanzministerkonferenz nicht einmal diskutieren wollte.

Lustig sind nun die Reaktionen. Sigmar Gabriel begrüßte mit einem Bierglas in der Hand das vermeintliche Einlenken Athens. Das sei eine gute Entscheidung, “weil jetzt offensichtlich die griechische Regierung erkennt, dass es nicht um die Interessen ihrer Partei geht, sondern um die Interessen Griechenlands und der Bürgerinnen und Bürger”, sagte Gabriel am Rande des politischen Aschermittwochs der SPD im niederbayerischen Vilshofen. In Bayern ticken die Uhren halt anders.

Was Griechenland will, kann man unterdessen bei der britischen Financial Times nachlesen.


EDIT: Die FAZ schreibt: Schuldenkrise – Griechenland veröffentlicht Verhandlungsdokumente

http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/eurokrise/griechenland/griechenland-veroeffentlicht-rede-von-varoufakis-13435497.html


Ergänzung: Äußerst beschämend ist die weitere Medienleistung. Inzwischen wird gemeldet, dass es ein Papier der EU-Kommission am Montag gegeben hat, dem Griechenland auch zugestimmt hätte. Allerdings sei die EU-Kommission nicht berechtigt, Papiere in der Eurogruppe vorzulegen. Diese Darstellung stützt natürlich die harte Schäuble-Position, kommt wahrscheinlich auch von dort.

Die Wahrheit ist aber wie immer mehr als die Summe einzelner Teile. Demnach ist das Treffen der EU-Finanzminister am Montag ja vorbereitet worden und nicht vom Himmel gefallen. Es gibt immer Vorbereitungen, gerade die gipfelerfahrenen Medien sollten das inzwischen mal gemerkt haben. Vor einer Woche sei vor der Sitzung des Europäischen Rates ein Entwurf formuliert worden, der auch von EZB-Chef Draghi und Christine Lagarde vom IWF begrüßt wurde.

In einer Rede stellt der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras den Verlauf der Verhandlungen wie folgt dar:

„In einem harten Verhandlungsprozess, in dem wir es abgelehnt haben, den psychologischen Erpressungsversuchen der Gläubiger nachzugeben, sind wir mit Jeroen Dijsselbloem am vergangenen Donnerstag, fünfzehn Minuten vor Beginn der Sitzung des Europäischen Rates, zu einer gemeinsamen Erklärung gelangt.

Es handelt sich um die Erklärung, die auch der Europäische Rat angenommen hat und durch welche die Eurozone erstmals Abstand davon genommen hat, das Memorandum zur Bedingung des neuen Verhältnisses zwischen Griechenland und seinen Gläubigern zu machen.

Quelle: NachDenkSeiten

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Realitäten anerkennen

Geschrieben von: am 17. Feb. 2015 um 17:50

Wenn über Griechenland gesprochen wird, ist immer von einem Programm die Rede. Die Griechen sagen, es sei gescheitert. Die Eurogruppe sagt, es sei eine Bedingung. Damit geht es nicht wie vielfach behauptet um verhärtete Fronten, die sich unversöhnlich gegenüberstehen, sondern darum, dass hier jemand die Realität nicht akzeptieren will.

Dass Schäuble und seine aalglatte Sprechpuppe Dijsselbloem die gesellschaftliche Wirklichkeit ausblenden, ist sonnenklar. Sie berufen sich auf eine Vertragsrealität und argumentieren juristisch nicht ökonomisch, wie Thomas Fricke schreibt. Während Griechenlands Finanzminister Yanis Varoufakis neben ökonomisch vernünftigen Argumenten auch auf die humanitäre Lage in seinem Land verweist, die es zu beenden gilt, erntet er in diesem Punkt nur kühle Ignoranz. Es scheint fast so, als wollte Schäuble sagen, dass das Leid der Menschen in Griechenland nicht Gegenstand der Verhandlungen in Brüssel sein könne.

Teutonische Selbstüberschätzung

Ihm tun die Griechen trotzdem leid, aber nicht, weil sie leiden, sondern weil sich ihre Regierung (dem deutschen Finanzminister gegenüber) unverantwortlich verhalte. An der verwüsteten griechischen Gesellschaft ist Schäuble nicht sonderlich interessiert. Er hält die Demütigung, die das Eingeständnis, bei der Eurorettung völlig versagt zu haben, mit sich brächte, für weitaus schlimmer. Wie stünde Europa auch da, in dem seit Ausbruch der Krise endlich wieder Deutsch gesprochen werde.

Haushaltsdisziplin, schwarze Null und eine Schuldenbremse mit Verfassungsrang: Das sind die Eckpfeiler, auf denen ein neuer teutonischer Größenwahn beruht und manchen hierzulande glauben lässt, Deutschland sei ein Musterschüler mit Vorbildfunktion. Der griechische Finanzminister Yanis Varoufakis glaubt nicht daran, denn er weiß es aufgrund seiner Ausbildung einfach besser. Er bezeichnet das alte Kürzungsprogramm, an dem Juristen wie Schäuble festhalten wollen als Ursache des Problems und nicht als Lösung.

Da spricht ein Fachmann, der volkswirtschaftliche Zusammenhänge versteht und daraus seine Schlüsse zieht. Schäuble ist auch Fachmann, aber nicht auf dem Gebiet der Ökonomie. Er ist vielmehr ein Vollstrecker, der einer vorgegebenen politischen Agenda folgt. Davon lässt er sich weder durch Vernunft noch durch sein offenkundiges Scheitern abbringen. Neben Varoufakis wirkt Schäuble aber nicht sonderlich kompetent. Das führt zu kindischen Reaktionen (Ultimatum) oder zu Frechheiten wie der Bemerkung Varoufakis hätte noch Luft nach oben.

Die griechische Regierung ist gespickt mit Wissenschaftlern, die an renommierten Hochschulen der Welt studiert und gelehrt haben. Sie werden trotzdem als Radikale oder Spinner bezeichnet, weil sie einen seit Jahren eingeübten Glauben bedrohen. Die Bundesregierungen bestehen in der Regel aus gelernten Berufspolitikern mit Sprechblasenzusatzausbildung, die ihre akademischen Grade zum Teil erschlichen haben. Die beruflichen wie wissenschaftlichen Abschlüsse werden von diesen Damen und Herren lediglich zur Dekoration getragen. Etwas mit der Praxis zu tun haben, wollen sie lieber nicht, es aber auf jeden Fall immer besser wissen.

Die Zeit läuft für beide Seiten ab

Im Schuldenstreit heißt es, dass vor allem Griechenland die Zeit davon laufe. Dass muss dann aber auch für die Gläubiger gelten, die im gleichen Boot sitzen und im Falle einer Zahlungsunfähigkeit auf Forderungen in Milliardenhöhe verzichten müssen. Schäuble warnt deshalb: Wenn das aktuelle Hilfsprogramm nicht ordnungsgemäß beendet werde, „wird eine schwierige Situation entstehen“. Nur für wen?

Für die Finanzmärkte wohl eher nicht. Denn da hat eine Pleite der Griechen ihren Schrecken offenbar verloren. Dort sitzen auch kaum noch Gläubiger, die um den Wert ihrer griechischen Staatsanleihen bangen müssten. Diese haben sie nämlich, Schäuble sei Dank, zu einem guten Kurs beim ersten Schuldenschnitt an die öffentliche Hand weiterreichen dürfen. Überhaupt hat sich die Dauer der Eurorettungsaktion für den Finanzsektor gelohnt. 77 Prozent der Hilfen gingen direkt dorthin.

Der Spiegel schreibt: “Von den bis Mitte 2013 nach Griechenland geflossenen knapp 207 Milliarden Euro sind gut 77 Prozent direkt (58,2 Milliarden für Bankenrekapitalisierung) oder indirekt (101,3 Milliarden für Gläubiger des griechischen Staates) an den Finanzsektor geflossen. Für den Staatshaushalt blieben aus den Rettungsprogrammen weniger als ein Viertel.” Griechenland war also nur eine Zwischenstation, um die eigentliche Bankenrettung, um die es in Wahrheit immer ging, zu verschleiern.

Auch diese Realität gilt es endlich anzuerkennen.


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Nichtwähler sind stärkste Kraft in Hamburg

Geschrieben von: am 17. Feb. 2015 um 7:33

Die Wahl in Hamburg bestätigt Trends. Ein Trend zur politischen Profillosigkeit und einen ungebrochenen Trend zur Wahlenthaltung. Statt über Erfolge sollte die Politik über ihr Scheitern diskutieren.

Die Wahl in Hamburg ist vorbei und es gibt wieder nur Gewinner. Allen voran die FDP, von der 99 Prozent ihrer Wähler meinen, sie stünde klar für Marktwirtschaft. Tut sie aber nicht. Bei den Liberalen stand nur Spitzenkandidatin Katja Suding im Rampenlicht, nicht die Marktwirtschaft. Sie ist eine PR-Fachfrau, die weiß, wie man ein Image formt. Nicht umsonst lag Suding in der Zufriedenheitsabfrage, die nicht mehr als die Präsenz in der Öffentlichkeit misst, auf Platz zwei hinter Olaf Scholz. Es ist weniger die Marktwirtschaft als eine toll bebilderte Boulevard Kampagne gewesen, die der FDP in Hamburg wieder auf die „Beine“ half.

Heikle Trends

Auf der anderen Seite soll auch Olaf Scholz gewonnen haben, einer, der landauf landab als Ableger eines neuen Politiker Typus beschrieben wird, den offenbar Angela Merkel schuf. Heribert Prantl schreibt von einem Triumph des Fleißigen, der durch auffällige Unauffälligkeit besticht. Ein Trend in der Politik, wie Prantl meint. Aber auch er übersieht das Wesentliche. Dem Triumph steht eine abermals gesunkene Wahlbeteiligung gegenüber. Nur noch 56,6 Prozent der Wahlberechtigten gaben ihre „Stimmen“ ab. Erstmals durften auch Jugendliche ab 16 an die Urne. Rund 1,3 Millionen Hamburger waren zur Wahl aufgerufen und damit rund 40.500 Wahlberechtigte mehr als 2011. Vor diesem Hintergrund wirkt der Rückgang der Wahlbeteiligung noch einmal dramatischer.

Die Nürnberger Nachrichten kommentieren treffend: „Die SPD in Hamburg bleibt stark, sehr stark – aber sie ist nicht die stärkste Kraft in der Hansestadt: Das sind jene Bürger, die von ihrem Wahlrecht gar nicht Gebrauch gemacht haben. Immer mehr Menschen zweifeln an ihrem Einfluss auf die Politik, glauben, sie könnten ohnehin nichts erreichen. Oft sind das weniger gut Gebildete, sozial Schwache, Arbeitslose in Problemvierteln, die es auch in Hamburg gibt. Das Wahlrecht dort macht es gerade ihnen schwer. Es ist kompliziert und demokratisch durchaus reiz-, aber eben auch anspruchsvoll. Deshalb geben zusehends die mittleren und oberen Schichten ihre Stimme ab, die unteren ziehen sich zurück – und sind deshalb tatsächlich schlechter repräsentiert als andere. Ein heikler Trend.“

Ungeachtet dieses Trends zur Wahlenthaltung wird Olaf Scholz schon als künftiger Kanzlerkandidat ins Gespräch gebracht, obwohl er mit dafür verantwortlich ist, dass die SPD im Bund keine Volkspartei mehr ist. Scholz war ja nicht immer Erster Bürgermeister Hamburgs, sondern davor gescheiterter Bundesminister für Arbeit und Soziales. In dieser Funktion prägte er den Satz: „Alles, was an Effekten durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen entsteht, wird jedes Mal zusammen mit der Arbeitsmarktstatistik veröffentlicht. … Ich glaube, dass man sich auf die Seriosität dieses Prozesses verlassen kann. Wer anders rechnen wolle, könne ja seine Zahl veröffentlichen – und dazu ein Flugblatt drucken.“

Scholz steht für den Niedergang der SPD

Der Niedergang der SPD ist untrennbar auch mit dem Namen Olaf Scholz verknüpft. Er gehört zu den Agenda-Befürwortern und war gewissermaßen einer der Totengräber der alten Sozialdemokratie, wie das Neue Deutschland heute richtig analysiert. Vor diesem Hintergrund wirkt es geradezu grotesk, Scholz als neuen Heilsbringer der Sozialdemokratie auch nur in Erwägung zu ziehen.

Zur Diskussion um den Ausgang der Hamburg-Wahl gehört natürlich auch die Spekulation um mögliche Koalitionen. Da spielt dann plötzlich ein Bündnis mit der FDP wieder eine Rolle. Auch das passt irgendwie zur Zeit, deren Beobachter einen sozialliberalen Kurs von Scholz erkannt haben wollen. Es ist immer wieder erstaunlich wie schnell nach einem Wahlerfolg Erklärungen verkündet werden. Scholz habe gewonnen, weil er für Verlässlichkeit stünde und Versprechungen eingehalten habe.

Die Verlierer müssen hingegen das Wahlergebnis immer erst genau analysieren, bevor sie einen Grund für ihr Scheitern nennen können, was freilich nie geschieht. Doch diese genaue Analyse täte auch den vermeintlichen Gewinnern einmal gut, die schon wieder über Inhalte diskutieren und darüber, was gut für die Hamburger sei, die zu einem großen Teil kein Interesse an der Wahl zeigten. Eine Gemeinsamkeit hat die SPD mit der FDP auf jeden Fall. Zwei Männer an der Spitze. Olaf Scholz und Katja Suding.


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Das gesprochene Wort gilt wenig

Geschrieben von: am 13. Feb. 2015 um 10:17

Griechenlands Finanzminister Giannis Varoufakis ist ein eher lockerer Typ, trägt keine Krawatten und hält auch nicht viel von einer Powerpoint-Präsentation, wie man in dieser Woche aus aufgeregten Pressemitteilungen erfuhr. Vor den Kollegen der Eurogruppe referierte der Grieche in Brüssel frei und ohne übliches Handout. Das wirkte auf einige Teilnehmer offenbar so befremdlich, dass sie sich hörbar darüber pikierten. Das gesprochene Wort gilt in Europa wenig.

Der Modus Vivendi fehlt

Was in Europa etwas zählt, sind die von Bürokraten und Unterhändlern vorher ausgehandelten schriftlichen Erklärungen, hinter denen sich die politischen Vorturner gern verstecken, damit sie dann vor die Kameras treten und Erfolge verkünden können, auch wenn die Probleme für jeden sichtbar einfach fortbestehen. Mündlich geht hier gar nichts. Ein Wunder, dass die Teilnehmer kein Dokument vorlegten, in dem sie erklären, dass sie mit dem papierlosen Vortrag des griechischen Finanzministers nicht einverstanden sind.

Das Maulen haben die Fachpolitiker nicht verlernt, denen man sonst jeden Satz aufschreiben muss. Einig sind sie sich jedoch darin, dass ohne schriftliche Vorschläge nichts Konkretes existieren könne. Deshalb müsse Varoufakis erst noch etwas abliefern, hieß es zerknirscht im Anschluss an die Brüsseler Konferenz. Vermutlich hat nur niemand hingehört, wie so oft, wenn es um Griechenland geht. Varoufakis jedenfalls wirbt um Verständigung, einen Modus Vivendi, wie er kürzlich in einem Interview sagte.

Es gibt da einen großen Unterschied zwischen dem „was wir meinen und sagen und der Behauptung anderer, was wir meinen oder sagen“, so Varoufakis. Es ist also zunächst einmal falsch anzunehmen, der griechische Finanzminister hätte nur herum gelabert und die Geduld der Gipfelteilnehmer mit Vorträgen überstrapaziert. Dem Vernehmen nach soll er keine neuen Vorschläge, sondern nur Altbekanntes wiederholt haben, kritisieren die politisch Empörten, die ihrerseits auf die Einhaltung bestehender Vereinbarungen pochten.

Moralische Pflicht, sich zu verstehen

Dass möglicherweise an dem Wiederholten etwas dran sein muss, von dem Varoufakis annimmt, es könne zu einer Lösung beitragen, wird offenbar gar nicht erst in Erwägung gezogen. Europas Retter aus dem Norden wollen lieber neue Vorschläge hören oder vielmehr lesen. Damit ist auch klar, dass sie das „Wiederholte/Altbekannte“ einfach ablehnen, ohne Diskussion. Wer sorgt nun also für den Eklat? Der, der kommunizieren will oder der, der nur auf schriftliche Vorlagen wartet und ansonsten nach dem Motto verfährt: „Dann ist es eben vorbei“.

So radikal geht es natürlich nicht, eine Lösung muss her, das ist allen klar. Und deshalb soll es aus Sicht der Euroretter auch wieder so laufen wie immer. Am bestehenden Kurs nichts verändern, aber es so aussehen lassen, als hätte man ein Zugeständnis gemacht. Möglicherweise hat Varoufakis diese Taktik im Kreise der Finanzminister durchschaut und deshalb einen Rückzieher gemacht, den die Medien hierzulande mit der Überschrift quittieren „Die Griechen brüskieren Europa“.

In dem oben zitierten Interview sagte Varoufakis „Es ist unsere moralische Pflicht als Europäer, uns zu verstehen.“ Was ist aber, wenn es den Rettungskräften in Brüssel und Berlin gar nicht ums Verständnis geht, sondern nur um ein Programm, dessen Umsetzung sie immer noch für richtig halten? Würden sie etwas verstehen wollen, wüssten sie, dass es in Griechenland keine Finanzkrise gibt, sondern eine humanitäre Katastrophe stattgefunden hat, die nichts anderes als eine Diskussion darüber verlangt, wie wir alle in Europa in Zukunft noch zusammenleben wollen.


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Alltäglicher Wahnsinn

Geschrieben von: am 05. Feb. 2015 um 6:47

Ein Deutscher Journalist (DJ) fragt einen griechischen Journalisten (GJ) nach dessen Einschätzung:

DJ: Warum stellt die Athener Regierung wieder Beamte ein?

GJ: Weil ein Verwaltungsgericht die Entlassung der Staatsbediensteten für illegal erklärt hat.

DJ: Aber die Beamten kosten doch Geld, das Griechenland gar nicht hat?

Merke: Die marktkonforme Demokratie, die der Deutsche Journalist (DJ) längst verinnerlicht hat, kennt keine demokratische Gewaltenteilung mehr. Der Dialog hat sich soeben bei NDR-Info zugetragen.

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Die Radikalen regieren in Berlin und Brüssel

Geschrieben von: am 03. Feb. 2015 um 9:52

Die neue griechische Regierung meint es Ernst und bietet der permanent gepredigten Alternativlosigkeit die Stirn. Denn die systematisch betriebene Verarmung eines Landes hat mit Rettungspolitik nichts zu tun.

Das kleine Griechenland treibt seinen Rettern die Zornesröte ins Gesicht. Da wäre zunächst einmal die Regierungsbildung zu nennen, die entgegen aller demokratischen Gepflogenheiten, bereits einen Tag nach der Wahl als abgeschlossen gelten konnte. Wie geht denn so was, fragte sich der Rest der europäischen Wertegemeinschaft. Weiß doch jeder, dass unter normalen Bedingungen lange zwischen den Koalitionspartnern verhandelt werden oder aber irgendetwas Geschäftsunfähiges über den Ablauf der Legislaturperiode hinaus im Amt bleiben müsse.

Als nächstes machte sich die neugewählte Regierung um Ministerpräsident Alexis Tsipras daran, die eigenen Wahlversprechen in die Tat umzusetzen. Auch das schockte die übrige europäische Wertegemeinschaft, die demokratische Wahlen lediglich als bizarre Showveranstaltung begreift. Hierzulande ist es bekanntlich unfair, Politiker an den Versprechen zu messen, die sie vor einer Wahl abgegeben haben, sagte einmal der große Spezialdemokrat Franz Müntefering. Diesem Offenbarungseid haben sich schließlich alle politischen Lager angeschlossen. Deshalb kann der deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger heute auch mit ernster Mine behaupten, das Verhalten der griechischen Regierung sei frech und unverschämt.

Mit dem Tempo überfordert

In Wirklichkeit ist die politische Klasse nördlich der Alpen auf das griechische Tempo gar nicht vorbereitet. „Kein Bock“, war daher die erste Antwort führender Köpfe wie des EU Parlamentspräsidenten Martin Schulz, der eilig und natürlich auf Kosten der Steuerzahler nach Athen jettete. Ihm folgten weitere hochrangige Beamte, die gegenüber den Medien mit Schaum vorm Mund auftraten, in den Gesprächen vor Ort aber kleinlaut erkennen mussten, dass Tsipras Regierung kein Betriebsunfall ist und sich wenig von den Drohungen des Nordens beeindrucken lässt. Die meinen es Ernst und nennen die bisherigen Rettungsaktionen von EU, EZB und IWF bei ihrem eigentlichen Namen: Verarmungspolitik.

Sollte die das Ziel der Troika gewesen sein, kann man durchaus von einem Erfolg sprechen. Massenarbeitslosigkeit, Wegfall des sozialen Netzes und eine große Depression in einem europäischen Land, die ungefähr so schwerwiegend verläuft, wie jene, die Amerika in den 1930er Jahren erlebte. Folgt man den als Retter auftretenden Folterknechten des Nordens soll diese Erfahrung noch einmal wiederholt werden. Wie sonst soll man die Schäubles und Schulzens verstehen, die gebetsmühlenartig ein Weiter so und sogar noch mehr Anstrengungen von den Griechen verlangen. Die letzten Troikaner glauben ernsthaft daran, mit diesen verantwortungslosen wie menschenverachtenden Rezepten noch einmal Zeit schinden zu können.

Doch die Zeit ist abgelaufen. Die Griechen wollen nicht noch mehr Jahre sinnlos verlieren. Die nach Ausbruch der Krise nie verheilten Brüche und Wunden innerhalb der Eurozone treten erneut offen zu Tage. Neben Griechenland werden nun auch wieder andere Staaten die von Berlin aus verordnete Verarmungspolitik lautstark infrage stellen. Denn gerade Länder wie Italien, Spanien und Frankreich haben längst bemerkt, dass mit dem Gerede von einer Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit immer nur die Deutsche gemeint ist. Südeuropa als verlängerte Werkbank der deutschen Exportindustrie: Das scheint der feuchte Traum von neoliberalen Kräften zu sein, die auf ein Heer billiger Arbeitskräfte und bedingungslose Rentabilität setzen.

Radikaler Umbau vorerst gestoppt

Dafür ist Zerstörung notwendig. Vor allem soziale Sicherungssysteme und der öffentliche Beschäftigungssektor gelten als Hindernisse auf dem Weg zum maximalen Profit. Griechenland war Modellregion für diese Art des brutalen Umbaus im Auftrage Berlins, das auf seine Finanzeliten hört. Doch damit ist jetzt Schluss, so scheint es. Die EZB darf nicht mehr bei der Troika mitmachen und die EU-Kommission unter Juncker will nicht mehr. Nur Berlin, das mit eigenen Beamten die Kontrolleure stellt, sowie die angeschlossenen deutschen Medienhäuser halten an einem Gremium fest, das nie demokratischen Spielregeln entsprach.

Wer sind also die Radikalen? Syriza? Die Linken im Allgemeinen? Der griechische Finanzminister Yanis Varoufakis sagte in einem lesenswertem Interview: „Wenn man sich das Programm der Syriza ansieht, findet sich bis auf den Namen nicht allzu viel, was radikal links wäre. Die Idee, dass Menschen sich im Notfall auf ein soziales Rettungsnetz verlassen können, widerspricht schließlich nicht der sozialen Marktwirtschaft – auch nicht in anderen Teilen Europas.“

Hat der Mann nun unrecht? Ist er gefährlich und sein Chef ein verrückter Geisterfahrer? Nein, dass die Linken gar nicht radikal sind, ziehen nur diejenigen in Zweifel, die ein erfolgloses wie menschenverachtendes Kürzungsprogramm noch immer für intelligente oder alternativlose Rettungspolitik halten. Die Radikalen dieser Zeit regieren eben nicht in Athen, sondern in Berlin und Brüssel.


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Zur Heuchelei um die Pressefreiheit

Geschrieben von: am 24. Jan. 2015 um 17:16

Je häufiger heutzutage von Presse- und Satirefreiheit geredet wird, desto weniger ist eigentlich das Grundrecht gemeint. Das Gerede dient den Herrschenden vielmehr dazu, den anderen zu zeigen, wie rückständig sie doch sind.

Wer kann sich noch an den Arabischen Frühling erinnern, als Länder wie Tunesien ihre Diktatoren stürzten und freie Wahlen veranstalteten. Die Begeisterung in der westlichen Welt war zunächst riesig, bis das Abstimmungsergebnis bekannt gegeben wurde. Die Menschen wählten mehrheitlich muslimische Parteien.

Unverständlich für den Westen und seine von der Satire weitgehend befreiten Medien. Bierernst fragten sie damals: „Sind die da unten überhaupt reif für die Demokratie?“ Als dann in Ägypten die Armee auf Demonstranten schoss, die gegen die Absetzung des gewählten Präsidenten Mursi protestierten, schrieben die gleichen Medien, die Demokratie sei gerettet worden.

Anschaulich ja, aber nicht informativ

In Paris versammeln sich einige Staatschefs etwas abseits vom Volk zum Foto-Shooting. Anschließend fahren sie wieder nach Hause. Die Presse nannte das einen kollektiven Marsch gegen Terrorismus und für Grundwerte an der Spitze von einer Million Menschen. Wenn dann aber der Zuschauer dank des Internets bemerkt, dass die Medien am Grund der Sache eher weniger interessiert waren, als vielmehr am Vermarktungswert ihrer Berichterstattung, wird er pampig.

Also nicht der Zuschauer, sondern der Journalist, der den gesendeten Unsinn in seinem aufgemotzten und von uns allen für knapp 24 Millionen Euro finanzierten Studio zu verantworten hat. Kai Gniffke, Chefredakteur der ARD Aktuell Redaktion, sieht sich beinahe wöchentlich verpflichtet, auf Zuschauerkritik in seinem Blog zu antworten. Allerdings lässt der Verantwortliche für die Nachrichten bei seinen Begründungen alles vermissen, was journalistisches Können ausmacht.

Dabei steht seiner Redaktion eine große Medienwand zur Verfügung, die nach eigener Darstellung eine bessere optische Umsetzung von Nachrichten erlaube. Schwierige Sachverhalte können in Form von animierten Grafiken anschaulicher dargestellt werden, so hieß es bei der Präsentation im April letzten Jahres. Anschaulich soll es sein, aber nicht informativ, könnte man heute erwidern. Mit großen Bildern, die nur einen kleinen Ausschnitt zeigen, wird offenbar mehr auf konstruierte als auf echte Realität gesetzt.

Eine tolle Pressefreiheit ist das unterm Strich, die da zur Schau getragen wird und am Sonntagmorgen im Presseclub einen weiteren Höhepunkt erfährt. Dort versammeln sich nämlich regelmäßig fünf namhafte Journalisten, um sich gegenseitig die oftmals gleichlautende Meinung zu bestätigen. Pressefeigheit wäre da treffender.

Pressefreiheit heißt Verantwortung

Das Entscheidende bei dem Begriff Pressefreiheit ist nicht die Freiheit, sondern die Verantwortung. Ein Journalist hat auch immer die Aufgabe abzuwägen und zu prüfen, welche Folgen Berichterstattung oder Meinungsäußerung hat. Wer Pressefreiheit um ihrer selbst Willen missbraucht, hat kein Interesse mehr an der Nachricht oder der Kritik, sondern findet nur Gefallen an der eigenen Machtdemonstration.

Die zum Teil heuchlerischen Solidaritätsbekundungen nach den Pariser Morden folgen genau diesem Muster, wenn zum Beispiel gesagt wird, Moslems müssten ertragen, dass über ihren Propheten gespottet werde. Das „Wie“ wird dabei gar nicht beachtet. Die Frage, welche Kritik die Karikaturisten zum Ausdruck bringen wollten, blieb im Fall von „Charlie Hebdo“ zunächst außen vor.

Inzwischen stellen sich einige Kollegen dieser Frage und haben herausgefunden, dass kritische Aussagen kaum zu finden sind. Die Bilder stehen da, bedienen Ressentiments und sind oftmals rassistischer Schund. Sie stellen eine Provokation dar, die eine Antwort erwartet und eben nicht die Wahl lässt, sie zu ignorieren. Wenn diese Antwort dann auch noch gewalttätig ausfällt, ist der Beweis der schon immer vermuteten Gewalttätigkeit einer uns fremden Gruppe erbracht.

Damit liefert die Pressefreiheit auch das Futter für rassistische Bewegungen, die letztlich mit den Mitteln der Ausgrenzung und der Angst arbeiten. Soll das aber eine Aufgabe von Journalismus sein? Dumpfe Gewalt provozieren und Identitätsstifter für das ein oder andere falsche Bewusstsein sein? Wenn Verantwortung eine journalistische Tugend ist, wird Aufklärung und nicht das Vorurteil zum natürlichen Verbündeten. Mit Zensur hat das nichts zu tun. Die Provokation und Zuspitzung bleibt nämlich erhalten für den, der weiß, was eine Polemik ist.

Alles zu dürfen, heißt nicht, auf gedankliche Arbeit zu verzichten

Für die Satire gilt etwas Ähnliches. Zur Zeit wird wieder Tucholsky inflationär bemüht, der vor gut 100 Jahren auf die Frage, was darf Satire, antwortete: „Alles.“ Die meisten geben sich damit zufrieden, halten das für einen Freifahrtschein, verkennen aber die Überlegungen, die Tucholsky anstellte, bevor er zu seinem Urteil kam. So schreibt er über die Satire, dass sie freilich übertreiben und ungerecht sein muss, aber er sagt auch klar: „Sie bläst die Wahrheit auf, damit sie deutlich wird.“ Folglich liegt derjenige weit daneben, der mit der Unwahrheit paktiert und dabei glaubt wahlweise witzig, informativ oder kritisch zu sein.

Die Feststellung, dass Satire alles dürfe, befreit nicht von der eigenen gedanklichen Arbeit, die auch für diese Form der freien Gestaltung geleistet werden muss.


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Mediales Trauerspiel

Geschrieben von: am 15. Jan. 2015 um 9:21

Vor ein paar Wochen haben sich die Medien noch bemüht, Putin auf dem G20-Gipfel als isolierte Person darzustellen, was misslang. In Paris bemühten sich die Medien nun, Staatschefs, die sich selbst isolierten, als Teil einer großen Masse darzustellen. Auch das misslang. Die Medien sollten vielleicht ihre Mission überdenken.

Ich finde, Kai Gniffke von der ARD sollte noch mal einen Grundlagenkurs zum Thema journalistische Arbeit machen. Natürlich sind Pressebilder Inszenierungen. Man verständigt sich auf ein Motiv oder eine Aussage mit den Abgebildeten. Eine Unterschrift oder ein Handschlag werden oft fürs Foto nachgestellt. Das ist Pillepalle und gehört zum Job.

Doch wie ich beim simplen Spatenstich das Wörtchen „symbolisch“ in der Bildunterschrift verwende, obwohl klar ist, dass ein Gebäude nicht in diesem Moment errichtet wird, so hätte dasselbe Wörtchen beim Aufmarsch der Staats- und Regierungschefs in Paris den zahlreichen Berichten, die etwas anderes suggerierten, sicherlich auch gut zu Gesicht gestanden.

Es wäre keine Schande für die Kollegen, dieses klare Versäumnis einzugestehen. Wer eine Botschaft der Geschlossenheit transportieren will, muss eben auch zur Kenntnis nehmen, dass es sie aus durchaus verständlichen Sicherheits- oder Termingründen nur eingeschränkt geben kann. Der amerikanische Präsident betritt in Europa auch nur Straßen, wenn die Gullydeckel verschweißt sind.

Ob man das ganze dann als symbolischen Akt oder als eine bewusste Inszenierung für die Weltöffentlichkeit beschreibt, ist tatsächlich eine Bewertungsfrage, die im Rahmen der journalistischen Freiheit diskutiert und entschieden werden darf. Die Presse darf das ganze auch ignorieren, wenn ihr die Wirklichkeit als unwichtig erscheint.

Die Aufgabe der Medien ist aber nicht, eine Wirklichkeit zu erfinden oder eine vermeintliche Realität zu zeigen, die andere oder man selbst ganz gern hätte, weil es möglicherweise ein Mehr an Aufmerksamkeit verspricht. Die Aufgabe der Medien besteht nach meinem Verständnis darin, aufzuklären und zu bewerten. Eigentlich ganz simpel.


Link-Tipp: Lesenswert ist in diesem Zusammenhang auch der Beitrag von feynsinn mit dem Titel Hoftheorie: Alles nur Theater

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Die fehlende Sachkenntnis ist oftmals das Problem

Geschrieben von: am 14. Jan. 2015 um 16:06

Alles spricht von „Lügenpresse“ und dem Vorwurf einer bewussten Täuschung durch Journalisten. Wer aber solch ein Verhalten unterstellt, unterstellt auch Sachkenntnis, die nötig ist, um Wahrheit verdrehen oder leugnen zu können.

Viele Leitartikler blamieren sich aber nicht, weil sie um die Wahrheit Bescheid wüssten, sie blamieren sich, weil sie die Wirklichkeit eben nicht kennen und lieber darauf vertrauen, was seit Jahren falsch geglaubt und vorgebetet wird.

Ein Beispiel: Meine Tageszeitung hat sich im heutigen Leitartikel (leider nur im Abo vollständig abrufbar) für das Thema Tarifpolitik entschieden. Darin beschäftigt sich der Autor mit den gleichzeitig anstehenden Verhandlungen in zahlreichen Branchen. Ihm fällt dabei auf, dass es den Gewerkschaften nicht mehr so sehr um Prozente gehe. „Als Konsens haben sich 5,5 Prozent durchgesetzt.“ (die ver.di-Forderung von 11 Prozent hat der Autor im Artikel nicht genannt)

Das Denken wird abgebrochen

Im Vergleich zu anderen Jahren klinge das nicht nach viel, fährt er fort. Statt aber diesen Anflug eines komischen Gefühls weiter zu ergründen und sich zu fragen, warum es eigentlich mehr an Entgeltforderung sein müsste, bricht der Autor das Denken ab und bringt die einfach anmutende wie gängige These an: „Allerdings wären gewaltige Steigerungen auch nicht zu begründen.“ Das muss er natürlich erklären und schreibt dann vermeintlich sicher:

Lohnerhöhungen sollen in erster Linie dem Inflationsausgleich dienen und erreichte Produktivitätssteigerungen abbilden. Nur: Ersterer nähert sich gerade der Nulllinie, und Letztere bewegen sich vielleicht bei etwas mehr als einem Prozent. Hinzu kommt, dass Deutschland in den vergangenen Jahren bei der Reallohnentwicklung kräftig aufgeholt hat – die Tarifgehälter also deutlich schneller stiegen als die Inflation und die Saläre im europäischen Nachbarland.“

Was fängt man jetzt damit an? Offensichtlich weiß der Autor nicht, dass die Entwicklung der Inflationsrate, die 2014 im Schnitt bei 0,9 Prozent lag, von der Entwicklung der Lohnstückkosten (also Lohnkosten im Verhältnis zur Produktivität) abhängig ist. Es gibt also einen unbestritten engen Zusammenhang zwischen Löhnen und Preisen. Die Preise steigen nun aber weniger stark als früher und der Autor schließt dennoch daraus, dass ein kräftiger Aufholprozess bei den Reallöhnen stattgefunden haben muss. Irre.

Dabei zeigt die sinkende Inflationsrate gerade das Gegenteil an, nämlich das irgendetwas bei der Entwicklung der Löhne schiefgelaufen sein muss, sonst wäre die Teuerung höher ausgefallen. Der Autor vergisst auch zu erwähnen, dass es innerhalb der Eurozone eine Zielinflationsrate von 1,9 Prozent gibt, an die sich alle, auch Deutschland eigentlich hätten halten sollen. Taten sie aber nicht, was zu den Verwerfungen, also Überschüsse einerseits und Defizite andererseits sowie den zahlreichen Rettungspaketen führte.

Wo das Wissen fehlt, wuchert die üble Nachrede

Die goldene Lohnregel, die der Autor oben anspricht (Lohnerhöhung = Zielinflationsrate + Produktivitätssteigerung), hätte er mal auf Einhaltung hin überprüfen sollen. Er hätte festgestellt, dass Deutschland schon sehr lange unter seinen Verhältnissen lebt und zugelassen hat, dass die Leistungsbilanzen innerhalb der Eurozone weit auseinander drifteten. Um diesen Prozess nachhaltig umzukehren, müssten sich die hiesigen Tarifpartner folglich auf außerordentlich hohe Abschlüsse verständigen. Schlussfolgerung: Eine gewaltige Steigerung wäre durchaus zu begründen, ja sogar vernünftig.

Stattdessen hängen Bundesregierung, Mainstream-Ökonomen und weite Teile der Presse weiter an den Überschüssen. Sie vertrauen also darauf, dass sich das Ausland bei uns verschuldet und Defizite anhäuft, während in Berlin der ausgeglichene Haushalt gefeiert wird. Ein Widerspruch, der selten in den Kommentarspalten thematisiert wird.

Dass die Gewerkschaften mit ihrer Haltung und ihren bescheidenen Lohnforderungen die Position der eigenen Mitglieder weiter schwächen, wäre durchaus mal eine Erwähnung wert. Stattdessen wird auf Frank Bsirske von ver.di an anderer Stelle wieder eingedroschen, weil er für den öffentlichen Dienst ein Lohnplus von bis zu 11 Prozent fordert, in der Hoffnung bei 5,5 zu landen. Und da die Sachkenntnis auch hier wieder fehlt, wird mit Schaum vorm Mund gnadenlos diffamiert. Fehlt nur noch ein Foto vom Privathaus und die Durchwahl zum Büro des ver.di Chefs.


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