Es ist unbegreiflich: Die Wahlen verloren, die Regierungsbildung vergeigt, doch bei den eigenen Anhängern wie auch bei anderen Parteien und Teilen der Medien steht Merkel schon wieder blendend da. Sollte es zu Neuwahlen kommen, dürfte die AfD weiter an Zustimmung gewinnen, da diese Partei die einzige ist, die den Rücktritt einer gescheiterten Regierungschefin fordert, die zurzeit nur noch geschäftsführend im Amt ist. Den rechten Stimmenfängern wird es zu leicht gemacht.
Wer die Äußerungen des gestrigen Montags genau verfolgt hat, muss sich doch verwundert die Augen reiben. Noch vor Ablauf des Tages hat sich die geschäftsführende Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzende, die mit allem gescheitert ist, bereits als neue Kandidatin der Union bei möglichen vorgezogenen Neuwahlen in Stellung gebracht. Die Reihen der Union sind auf wundersame Weise geschlossen. Es lebe die Gottkanzlerin.
Sogar aus anderen Parteien erhält Merkel die volle Unterstützung. Bereits nach den gescheiterten Sondierungsgesprächen übergoss das grüne Spitzenduo, Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir, die Kanzlerin mit unangebrachten Lobeshymnen. Eine tolle und faire Verhandlungsführung wurde ihr attestiert, sowie das Bemühen um Kompromisse, bei denen sich alle Parteien hätten wiederfinden können. Sogar Horst Seehofer blies ins selbe Horn und stärkte Merkel demonstrativ den Rücken. Dabei lag acht Wochen nach der Wahl nichts auf dem Tisch, das für eine Regierung auch nur ansatzweise getaugt hätte. Deshalb war ja der inszenierte Ausstieg der FDP auch mit schlechter schauspielerischer Leistung möglich.
Wer nun aber denkt, dass die Sozialdemokraten jetzt anders reagierten, der sieht sich getäuscht. Die SPD-Fraktionschefin, Andrea Nahles, sagte merkwürdige Dinge wie, Merkel sei gescheitert, stünde aber nach wie vor in der Verantwortung. Eine Rücktrittsforderung hörte man von Seiten der SPD hingegen nicht, nur die Empörung darüber, dass sich Merkel schon mal vorsorglich als neue Kanzlerkandidatin ausrief. Da gehe es bei der SPD ja viel demokratischer zu, wie Komiker Martin Schulz in einer der zahlreichen Nachrichtensendungen anmerkte, als er davon sprach, dass der SPD-Parteivorsitzende ein Vorschlagsrecht besitze und das auch nutzen werde.
Merkel darf den Diskurs bestimmen
Zwar fragten Journalisten (bei Was nun, …? im ZDF zum Beispiel) nach dem Rücktritt der Kanzlerin, doch die verwies einfach auf ein Versprechen, das sie einhalten wolle. Obwohl das überhaupt keine Begründung ist, blieben Nachfragen aus. Nebensächlichkeiten, wie, wer da nun wann vom Verhandlungstisch aufgestanden sei, interessierte die Journalisten offensichtlich mehr. Merkel dominiert schon wieder die Debatte. Ihre Auftritte im ZDF wie auch in der ARD waren nicht von dem vorangegangenen Desaster und einer notwendigen Kritik an der Kanzlerin geprägt, sondern von einer merkwürdigen Selbstverständlichkeit, das Merkel den weiteren Kurs bestimmen dürfe.
Sie wisse nicht, was sie jetzt anders hätte machen sollen, hatte Merkel nach ihrer Wahlniederlage am 24. September gesagt. Diesen Satz wiederholte sie sinngemäß auch in ARD, als sie auf Kritik an ihrem Verhandlungsstil in den Sondierungen angesprochen wurde. Die vier Wochen Verhandlungszeit seien halt nötig gewesen, sie habe ferner alles getan, was sie tun konnte und man sei ja schließlich auch vorangekommen. Nachfragen oder Richtigstellungen keine. Unfassbar.
Dass es eben keine Ergebnisse gab, sondern nur umstrittene Formulierungen, auf die man sich selbst nach mehreren Ultimaten nicht hat verständigen können, geschenkt. Dass zu den vier Wochen ergebnisloser Verhandlungszeit aber noch einmal vier Wochen vertaner Wartezeit nach der Bundestagswahl dazukommen, scheint niemand der Kanzlerin mehr ankreiden zu wollen. Was hat denn eine mutwillige Verschleppung der Regierungsbildung noch mit Verantwortung zu tun? Es ist bedauerlich, dass man so einer Pappnase wie Alexander Gauland schon zustimmen muss, wenn der sagt, dass es für Merkel Zeit sei, zu gehen. Den Rechten wird es eben zu einfach gemacht.
NOV
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.