Gesetz und Gerechtigkeit gelten nicht für den, der über die Macht verfügt. Das ist eine bittere Lektion, die man bereits lernt, wenn man versteht, was Kommunalfilz ist. Dieser äußert sich zum Beispiel darin, dass sich Bürgermeister und Stadträte etwas in den Kopf setzen, dabei geltendes Recht ignorieren und mit Hilfe kungelnder Regionalmedien – man kennt sich halt – solange öffentlichen Druck aufbauen, um durch längeren Atem und dem berühmten Aussitzen, den in seinen Mitteln unterlegenen Gegner zur Aufgabe zu zwingen. Der Schwächere mag ja das Recht auf seiner Seite haben, nur es nützt ihm nichts, weil der Mächtige über etwas viel Wertvolleres verfügt, nämlich Zeit. Sie sichert ihm den Gewinn, auch ohne Gesetz und Gerechtigkeit sonderlich beachten zu müssen. Nur wenn sich die Mächtigen auf diese Weise durchsetzen, gelten sie auf kommunaler Ebene gemeinhin als Macher und nicht als jene, die sich selbst in unzulässiger Weise über das Gesetz stellen.
Was in der kleingeistigen Welt der kommunalen Selbstverwaltung funktioniert, ist natürlich auf den großen Kosmos der Bundespolitik übertragbar. Es triumphiert eben nicht das Gesetz, die Gerechtigkeit oder die Demokratie, sondern eine Form der Staatskriminalität, bei der der Mächtige nicht der gewählte Volksvertreter ist – der ist ja bloß ein Handlanger sondern derjenige, der ein Interesse daran hat, bestimmte Regeln zu umgehen, um einen betriebswirtschaftlichen Vorteil daraus zu ziehen.
Gerade die deutsche Wirtschaft genießt Sonderrechte, die ihr eigentlich gar nicht zustehen. Dank politischer Korruption darf sie sich aber über Steuergeschenke freuen, die zu einem Großteil als Spielgeld auf den internationalen Finanzmärkten landen. Sie darf sich darüber freuen, dass die Verluste aus Spekulationsgeschäften von der Solidargemeinschaft, der sie selber nicht angehören wollen und tatsächlich auch durch Aufkündigung der paritätischen Finanzierung des Sozialsystems immer weniger angehören, übernommen werden. Sie darf sich ferner über Arbeitskräfte freuen, die unter Druck und Androhung von Sanktionen bereit sein müssen, ob sie das wollen oder nicht, jede Arbeit zu jedem Preis anzunehmen.
Als Friedrich Engels im 19. Jahrhundert über die Freiheit des Proletariers ironisch schrieb, er habe die Wahl, die Bedingungen, die ihm die Bourgeoisie stellt, zu unterschreiben oder – zu verhungern, zu erfrieren, sich nackt bei den Tieren des Waldes zu betten! (Friedrich Engels, Lage der arbeitenden Klasse in England), konnte er noch nicht wissen, dass es mal eine Bundesregierung geben wird, die mit der Einführung eines vorsorgenden Sozialstaats nicht den Kampf gegen die Armut gemeint hat, bei dem sie sich der Wahrung von Grundrechten verschrieben hätte, sondern einen Kampf gegen die Menschen selber. Die haben zwar formal einen Anspruch auf ihre Grundrechte, sind aber letztlich so schwach, dass es für die Handlanger der Mächtigen ein Leichtes ist, sie ihnen vorzuenthalten oder wegzunehmen.
Die Zeit und die Dauer eines rechtsstaatlichen Verfahrens, bei dem am Ende das unrechtmäßige Handeln auch als solches erkannt und festgestellt wird, verpufft indes wirkungslos. Zu dominant sind die geschaffenen Fakten und zu schwach die Drohung der Gerichte, die über die Grundrechte wachen. Die Mächtigen wie auch deren Handlanger in der Politik haben begriffen, dass das System gerade auch unter der zunehmenden Realität verfassungswidriger Zustände funktioniert. Das Gesetz hat seine Macht verloren. Die Demokratie steht zur Disposition und der Wiederkehr der Tyrannei kaum noch etwas im Wege.
OKT
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.