Wer lesen kann, ist klar im Vorteil

Geschrieben von: am 01. Jun 2012 um 18:14

Bereits bei der Meldung zu den Einzelhandelsumsätzen waren sich die Berichtenden nicht einig, ob der private Konsum nun überraschend gesunken oder erwartungsgemäß gestiegen sei. Ich bin immer wieder erstaunt darüber, mit welchem Selbstbewusstsein die Journaille ihre buchstäbliche Ahnungslosigkeit zur Schau stellt. Okay, bei den Umsätzen im Einzelhandel ist es auch schwer. Nimmt man nun den Vergleich zum Vormonat oder zum Vorjahresmonat. Hat man bedacht, dass der Vergleichsmonat einen Verkaufstag mehr oder weniger hat. Selten kommt einer auf die Idee eine lange Reihe zu betrachten oder mal im Internet zu recherchieren. Was spricht denn dagegen auf Quellen zurückzugreifen, die eine präzise und offensichtlich kompetentere Analyse der Lage präsentieren können, als die üblichen Kaffeesatzleser der großen Forschungsinstitute?

Bei den Zahlen zum Außenhandel im ersten Quartal 2012 kommt nun zu den üblichen fachlichen Defiziten und Verständnisschwierigkeiten auch noch eine Leseschwäche hinzu. Denn in einer Tabelle präsentierte das statistische Bundesamt, wohin die deutsche Wirtschaft ihre Waren verkauft und wie viel sie dafür erlöst. Unzweifelhaft ist erkennbar, dass von der gesamten exportierten Warenmenge im Wert von 276 Milliarden Euro, rund 60 Prozent in die EU-Staaten geflossen sind (161,2 Mrd. Euro). Allein in die Eurozone gingen Waren im Wert von 107,4 Mrd. Euro. Das entspricht einem Anteil von knapp 40 Prozent.

Nun schreibt das statistische Bundesamt selber, dass die Ausfuhren in die Euro-Länder mehr oder weniger einbrechen (EU-Mitgliedsstaaten +2,2% “schwach”, Eurozone +0,9% “noch schwächer”). Interessierte können sich im einzelnen die deutlichen Rückgänge der Exporte in die südlichen Euroländer anschauen, die unter der Finanzkrise und den deutschen Spardiktaten besonders zu leiden haben. Die Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von den Handelspartnern in Europa wird in den Medien aber gar nicht thematisiert, sondern ausschließlich die positive Entwicklung der Exporte in die sog. Dritt- oder Nicht-EU-Länder (+11,2%) abgefeiert. Dabei sind die Nicht-EU-Länder der Rest der Welt, und die hat mit einem Anteil von knapp über 40 Prozent an den deutschen Exporten genauso viel Gewicht wie die offensichtlich bedeutungslose Eurozone allein.

Wenn man nun die USA nimmt, die Waren im Wert von 21,4 Mrd. Euro aus Deutschland importiert haben oder China, das ja als großer Abnehmer der Zukunft betrachtet wird, mit einem Anteil von 16,7 Mrd. müsste doch jedem die schiefe Relation auffallen. Kein anderes Land könnte für die wegbrechenden Handelspartner in der EU mal ebenso einspringen. Vom Handel mit China sind die “Experten” ja bereits enttäuscht. Doch während die einen den Einbruch der Ausfuhren in die Krisenländer wenigstens zur Kenntnis nehmen, schmeißen die anderen mal wieder alles zusammen und werten die Zunahme der Ausfuhren im Vergleich zum Vorjahresquartal um 5,8 Prozent als Beleg für eine stabile und krisenfeste deutsche Wirtschaft.

Doch wird im Rest der Welt nicht mit Euro gezahlt. Es ist tölpelhaft zu denken, dass andere Staaten auf Dauer Defizite hinnehmen werden, um den Deutschen ihren Überschuss zu finanzieren. Denn auch das ist wieder mal deutlich geworden. Den 276 Mrd. Euro an Ausfuhren stehen nur 230,5 Mrd. Euro an Einfuhren gegenüber. Das macht einen Überschuss von 45,5 Mrd. Euro in der Handelsbilanz, die andere Staaten durch entsprechende Schulden aufbringen müssen. Setzt sich das in den nächsten drei Quartalen fort, stünde am Ende des Jahres mal wieder ein verheerender Bilanzüberschuss von 182 Mrd. Euro (2011 waren es 158,1 Mrd. Euro).

Das Auseinanderklaffen von Im- und Exporten ist dabei ein Beleg für die anhaltende Konsumschwäche der deutschen Binnenwirtschaft. Wäre tatsächlich mehr Kaufkraft vorhanden, die mit den launischen Stimmungsbarometern angeblich gemessen wird, dann müsste die Handelsbilanz deutlich ausgeglichener ausfallen.

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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Kommentare

  1. almabu  Juni 2, 2012

    Danke, habe selten so eine klare und plausible Beschreibung der Problematik unserer Second-Hand-Statistik- und Konjunkturdaten gelesen!

    Selbst in „journalistischen Texten“ fehlen oft Bezugsgrößen, Währungseinheiten, das „Handwerkszeug“ halt…