Die Wirtschaftsforschungsinstitute haben einmal mehr ihre Prognosen aus dem Frühjahr korrigieren müssen und sehen nun ein Ende der erfundenen Aufschwung-XXL-Party. Man muss die Fehlleistungen von Professoren der Ökonomie nicht weiter kommentieren. Ob die nun ein Gutachten mehr oder weniger erstellen, dürfte kaum jemanden in diesem Land interessieren, der noch bei klarem Verstand ist. Zahlreiche Journalisten scheinen aber nicht dazu zu gehören, da sie den Unsinn der Scheinexperten einfach nachbeten oder glauben, in dem vorgestellten Herbstgutachten eine gewisse Plausibilität erkennen zu können.
So sei auf einmal völlig klar, dass die deutsche Wirtschaft im kommenden Jahr nur „minimal wachsen“ und die sog. „Staatsschuldenkrise“ dazu führen werde, dass sich die Verbraucher von einer „pessimistischen Grundstimmung“ anstecken ließen. Demnach ließe sich dann auch behaupten, dass im Einzelhandel die Sorge zunehme, die Euro-Krise würde sich zu einer Art Konsumkiller entwickeln.
Einzelhandel: Ein Toter wird umgebracht
Dabei ist der Konsum in Deutschland seit Jahren gekillt, weil die Einkommen real an Kaufkraft verloren haben. In den letzten zehn Jahren sanken die Reallöhne in Deutschland um 4,5 Prozent. Man kann nicht, ohne sich selbst zu verschulden, mit weniger Einkommen mehr Waren und Dienstleistungen einkaufen. Nimmt man die Tatsache des staatlich verordneten Sparens durch eine private Altersvorsorge hinzu – es existieren immerhin über 14 Millionen Riesterverträge – müsste doch klar sein, dass es eine Konsumparty nie gegeben hat und auch nie geben wird. Es soll sogar schon vorgekommen sein, dass Bestandteile des Lohnes als Warengutschein ausgegeben worden sind. Gerade bei den Beschäftigten im Einzelhandel soll damit wohl die Bindung zum Arbeitgeber gesteigert werden. Genutzt hat das aber nichts, wie die amtlichen Zahlen zu den Umsätzen im Einzelhandel zeigen.
Es ist geradezu grotesk, einen Aufschwung für beendet zu erklären, der niemals stattgefunden hat. Begrüßenswert ist hingegen die Erkenntnis, bei aller „Robustheit“ von einer Krise irgendwie betroffen zu sein. Natürlich drückt sich diese Betroffenheit nicht in einer kritischen Selbstreflexion aus, sondern sucht die Schuld wie immer bei anderen. Die deutsche Wirtschaft ist von der globalen Entwicklung abhängig. Das gilt aber nicht nur für den Fall der Krise, sondern gerade auch für den Weg dorthin, der hierzulande als ein sich selbst tragender Aufschwung missverstanden und gefeiert wurde.
Privates Unwesen löst öffentlich-rechtliches Gemeinwesen ab
Die deutsche Wirtschaft oder konkreter Exportwirtschaft konnte nur wachsen, weil andere bereit waren, sich dafür zu verschulden. Nun wird auf beispiellose Art und Weise eine Austeritätspolitik diktiert, bei der gerade die deutschen Demokratie-Experten und überzeugten Menschenrechtler wie selbstverständlich fordern, dass die Griechen als harten Einschnitt eine bis zu 40 prozentige Kürzung ihrer Löhne akzeptieren müssten. Darüber entscheiden, dürfen die Betroffenen ohnehin nicht mehr. Das Parlament als Vertretung des Volkes ist am Ende. Wie das Beispiel Slowakei zeigt, wird einfach so lange abgestimmt bis es passt. Es finden sich halt überall Sozialdemokraten, die als Mehrheitsbeschaffer in der Not zur Stelle sind.
Inzwischen entscheiden die europäischen Banken über die Staatshaushalte und haben sich für den Notfall gleich selbst verstaatlicht, sagt Oskar Lafontaine in einem Gastbeitrag für das Handelsblatt.
Die Bilanzsumme der Deutschen Bank beispielsweise entspricht 80 Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung und übertrifft die griechische um das achtfache. Nicht Griechenland ist systemrelevant sondern die Großbanken und ihre finanziellen Massenvernichtungswaffen (Warren Buffet).
Das die Politik die Banken und den unproduktiven Finanzsektor durch Maßnahmen wie die Privatisierung der Rente, der Zulassung von Hedge-Fonds, der Förderung von Giftmüll (Verbriefungen) oder der Senkung der Steuerfreiheit auf Veräußerungsgewinne von Konzernen immer mehr aufrüstete, hätte aber niemals ausgereicht die europäische Einigung zu gefährden, sagt Lafontaine vollkommen richtig.
Die Panzerfaust an der europäischen Idee war das deutsche Lohndumping, die Enteignung der Bevölkerungsmehrheit durch die Agenda 2010, Leiharbeit, Befristungen und die Hartz-Gesetze. Die deutschen Reallöhne sind seit der Jahrtausendwende im Gegensatz zu der Lohnentwicklung in den anderen europäischen Staaten um 4,5 Prozent gesunken. Die Politik des Lohndumpings hat die europäischen Nachbarn in große Schwierigkeiten gebracht, den deutschen Binnenmarkt geschwächt und auch Jahrhundertprojekte wie die ökologische Wende verhindert. Sie war ein wichtiger Katalysator der Finanz- und Euro-Krise.
Ein Sozialdemokrat, der die Lage begriffen hat, ist selten. Nur wird er auch weitestgehend ignoriert. Die europäischen Partner seien eben nicht nur durch Bankenrettung und Finanzkrise, sondern auch durch die deutsche Lohnpolitik in die Schuldenfalle getrieben worden. Allerdings wäre die Verschuldung beherrschbar, wenn sich Deutschland dazu entschließen könnte, auf Exportüberschüsse zu verzichten und selbst eine Zeit lang Defizite zuzulassen. Die Krise kann ja nur gelöst werden, wenn die deutsche Übermacht von ihrer Wettbewerbsposition etwas abgeben würde.
Woher auch sonst sollen die Marktanteile kommen, die Staaten wie Griechenland dringend brauchen, um wettbewerbsfähiger zu werden? Sie benötigen ihrerseits Überschüsse, um die Schulden begleichen zu können. Weigern sich die Deutschen aber weiterhin, wird der erweiterte Rettungsschirm, der dem einfachen Rettungsschirm folgte nicht der letzte sein. Kaum verabschiedet, wird ja bereits darüber diskutiert, wie man die Finanzmittel durch geschickte Tricks (Hebelung) noch weiter aufstocken könnte, um neben Staaten ggf. auch kriselnden Banken wieder unter die Arme greifen zu können.
Merkel hat die Gewerkschaften im Sack
So dient aller Einsatz und Ehrgeiz stets dem Wohl der Banken sowie der deutschen Exportwirtschaft und nicht der Mehrheit der Bevölkerungen, die längst begriffen haben, dass der Empörung nun auch der Widerstand folgen muss. Nächste Woche beginnt der nächste Krisengipfel der Staats- und Regierungschefs, von denen nur die deutsche Kanzlerin wie benebelt meint, ihr Land sei bravurös durch die Krise gekommen und hätte sie gemeistert.
Vor Gewerkschaftsvertretern durfte Angela Merkel heute noch schnell für die Lohnzurückhaltung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den letzten Jahren danken. Es sei ein Stück gelebter sozialer Marktwirtschaft, wenn die Wirtschaft es zu jeder Phase, im Ab- wie im Aufschwung, hinbekomme, die Anpassung der Löhne so zu gestalten, dass am Ende ein beachtlicher Reallohnverlust dabei herausspringt. Dass die IG-Metall nicht den Mumm besessen hat, diesen dumm dreisten Versuch der Arschkriecherei beim Namen zu nennen und Frau Bundeskanzlerin empört aus der Halle zur jagen, zeigt einmal mehr die buchstäbliche Harmlosigkeit der einstigen Kämpfer für Arbeit und soziale Gerechtigkeit.
Das mag auch an der Suggestion liegen, Deutschland sei ein Musterknabe, weil es aktuell eine der niedrigsten Inflationsraten innerhalb Europas aufweise. Das werde bewundert und mit dem Prädikat Euro-Saubermann belohnt. Dabei wird die Teuerungsrate trotz zunehmender Produktivität durch das andauernde Lohndumping künstlich niedrig gehalten. Die innereuropäische Konkurrenz bekommt das erneut zu spüren. Hohe Wettbewerbsfähigkeit durch Lohndumping ist aber eben nicht das gleiche wie Produktivitätswachstum durch Innovationen und Investitionen.
Die Logik geht nicht auf
Vor allem Gewerkschaften und Linke scheinen bis heute nicht begriffen zu haben, dass sich die deutsche Wirtschaft quer durch die Eurozone schmarotzt. Zudem belasten Dumpinglöhne die öffentlichen Haushalte, weil der Staat die Lohndrückerei der Unternehmen mit Hartz IV bereitwillig subventioniert und für die gesellschaftlichen Folgekosten wie Altersarmut aufkommen muss. Deshalb die Rente mit 67 am besten mit Nebenjob und der staatlich betriebene SGB II Terror gegen die im System des Niedriglohnsektors gefangenen Opfer. Das ist nötig, um vom Scheitern der eigenen Logik abzulenken.
Mit Blick auf das große Gipfeltreffen dämpfte Frau Merkel übrigens wieder die Erwartungen mit dem Satz, der auch schon vor dem letzten Treffen galt:
„Es gibt nicht den einen großen Wurf, den einen Paukenschlag.“
Es wird Zeit, dass endlich das Volk zum Paukenschlag ausholt und diese Regierung verwirft. Dabei sind Brandsätze auf die Bahn ein denkbar schlechtes Mittel. Denn auch ohne diese Attacken erreichen die Züge das Ziel selten planmäßig und die Einnahmen aus höheren Preisen dennoch sicher die Kassen des Finanzministers. Der Effekt ist also gleich null. Möglicherweise bietet der morgige Day of Action Gelegenheit dazu, die Lageeinschätzer friedlich zu einem Umdenken zu zwingen.
OKT
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.