Nach der Schlappe für die zuständige Bundesministerin Ursula von der Leyen im Bundesrat erwarte diese nun wiederum, dass sich alle Beteiligten im Vermittlungsausschuss um eine Lösung bemühen. Keiner dürfe sich in den Weihnachtsurlaub verabschieden. Dann fügte sie noch an, dass sie persönlich Tag und Nacht für Verhandlungen zur Verfügung stehe. Nur der Weihnachtstag sei ihr heilig, so die Ministerin.
Vielleicht könnte die Ministerin ja gleich beim heiligen Weihnachtsfest anfangen. Das kommt nämlich überhaupt nicht im Regelsatz der Bedürftigen vor. Auf der anderen Seite gehört Frau von der Leyen nun keineswegs zu jenen unteren 15 Prozent der Bevölkerung, die sie im Zirkelschlussverfahren als Grundlage für ihre absurden Bedarfsberechnungen herangezogen hat.
Immer wieder wird von Journalisten die Frage an die Hartz-IV-Kritiker gestellt, wie hoch denn der Regelsatz sein müsse, 400, 420, 500 oder noch mehr Euro. Dabei haben diese Fragen immer so einen vorführenden Charakter. Als ginge es um das Spiel „Der Preis ist heiß“ und wehe einer legt sich auf eine höhere Zahl fest, dann hört man Harry Wijnvoord aus dem Off eingespielt sagen, leider überboten.
Dabei ist die Antwort immer eine Gegenfrage. Und zwar die, nach den eigenen monatlichen Kosten für Nahrung, Kleidung, Wohnen, Pflege, Mobilität, Freizeit und Bildung. Wahrscheinlich wird man das aber gar nicht so genau wissen oder für nicht vergleichbar halten, weil das eigene Leben so schwierig in Posten und Ausgabekategorien zu unterteilen ist. Das ist verständlich. Nur macht es die Frage nach der Höhe des Existenzminimums gleichwohl überflüssig oder zumindest unseriös, da die Kenntnis eines Bezugsrahmens fehlt.
Wer also die Diskussion über die Höhe von Sozialleistungen als simplen Überbietungswettstreit begreift, der hat nicht verstanden, worum es in Wirklichkeit geht. Die Richter des Bundesverfassungsgerichts haben es immerhin versucht, verständlich zu formulieren.
„Ein Hilfebedürftiger darf nicht auf freiwillige Leistungen des Staates oder Dritter verwiesen werden, deren Erbringung nicht durch ein subjektives Recht des Hilfebedürftigen gewährleistet ist.“
„Der unmittelbar verfassungsrechtliche Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstreckt sich nur auf diejenigen Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind. Er gewährleistet das gesamte Existenzminimum durch eine einheitliche grundrechtliche Garantie, die sowohl die physische Existenz des Menschen, also Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit, als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfasst, denn der Mensch als Person existiert notwendig in sozialen Bezügen.
Quelle: BverfG
Es geht also nicht um die Höhe des Regelsatzes, sondern um ein Grundrecht, ja eine grundrechtliche Garantie auf das Existenzminimum sowie eines menschenwürdigen Daseins. Die Höhe der Regelätze müssen trotzdem irgendwie festgelegt werden, das ist richtig. Nur so, wie es einem Durchschnittsverdiener schwer fällt, dass eigene Ausgabeverhalten nach bestimmten Kategorien aufzuschlüsseln, so schwer ist es auch ein Existenzminimum auszurechnen, das sich auf das statistisch gemessene Ausgabeverhalten der untern 20 Prozent der Einkommensbezieher stützt.
In diesem Punkt waren die Richter eben nicht konsequent, sondern widersprüchlich, als sie meinten, dass die Verbrauchsstichprobe als Berechnunsmethode verfassungsrechtlich vertretbar sei. Wenn nun aber die unteren 20 Prozent oder wie bei Frau von der Leyen geschehen, nur die unteren 15 Prozent der Einkommensbezieher aufgrund von Einkommensknappheit gar nichts mehr ausgeben für das, was die Verfassungsrichter als unbedingt erforderliche Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins subsumieren wie die Aufwendungen für die Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben oder einfach nur für Lebensmittel, dann ist das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum kaum mehr als ein schöner Hinweis darauf, dass es mal einen Sozialstaat mit Grundrechten gegeben hat.
Im Grunde haben die Richter ein Gesetz für verfassungswidrig erklärt, aber nicht berrücksichtigt, was sich aus dessen jahrelanger Anwendung in diesem Land entwickelt hat. Ein gigantischer Niedriglohnsektor, in dem inzwischen 25 Prozent aller Beschäftigten tätig sind. Und genau dieser Personenkreis, der im Prinzip Opfer eines verfassungswidrigen Gesetzes geworden ist, soll die Daten für eine verfassungskonforme Berechnungsmethode liefern. Das ist absurd. Nachdem das ALG II als Schuss ins Blaue konstruiert wurde, durfte die Marktmacht der Arbeitgeber im Prinzip über die Höhe der Sozialleistungen entscheiden und zwar auf der Grundlage von sinkenden Löhnen und prekärer Beschäftigung.
Die Richter hätten also selber nachrechnen müssen und nicht denen die Aufgabe stellen dürfen, deren erklärtes Ziel es immer war, die Masseneinkommen nach unten zu drücken.
Bundeskanzler a.D. Gerhard Schröder auf dem World Economic Forum in Davos am 28. Januar 2005:
„Wir müssen und wir haben unseren Arbeitsmarkt liberalisiert. Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt. Ich rate allen, die sich damit beschäftigen, sich mit den Gegebenheiten auseinander zu setzen, und nicht nur mit den Berichten über die Gegebenheiten. Deutschland neigt dazu, sein Licht unter den Scheffel zu stellen, obwohl es das Falscheste ist, was man eigentlich tun kann. Wir haben einen funktionierenden Niedriglohnsektor aufgebaut, und wir haben bei der Unterstützungszahlung Anreize dafür, Arbeit aufzunehmen, sehr stark in den Vordergrund gestellt.“
Quelle: Bundesregierung
Aber genau diese Schwachstelle im Spruch der Verfassungsrichter sowie ihr zugestandenes Recht auf Gestaltungsspielraum nutzt Frau von der Leyen, deren Kindern es sicherlich zu Hause im Anwesen von Opa Albrecht, also einem Mehrpersonenhaushalt, an nichts fehlt, ganz bewusst aus, um bedürftigen Kindern und deren Eltern eiskalt ins Gesicht zu spucken. Da stellt sich eigentlich nur eine Frage, wer wechselt die Windeln von Papa Ernst Albrecht, wenn Röschen Tag und Nacht zum Wohle der Armen verhandelt, die nun vorerst auf scheinbar Existenz sichernde fünf Euro und Bildungsgutscheine verzichten müssen?
DEZ
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.