Die seltsame Bewunderungshaltung gegenüber Angela Merkel ist nicht nur ein Thema zwischen Albrecht Müller (NachDenkSeiten) und Jakob Augstein (Freitag), die sich darüber in eine Auseinandersetzung begeben haben, sondern auch in den Medien im Zusammenhang mit der Fußball Europameisterschaft immer wieder zu beobachten.
Eine besonders absurder Beitrag war gestern auf NDR-Info von, ich glaube, Georg Schwarte zu hören. Er ist Berichterstatter aus dem politischen Berlin und hat mit einem Beitrag über die Fußballbegeisterung Angela Merkels den objektiven Bericht wohl eher be- als erstattet. Denn Schwarte schwärmte von Merkel, die nicht nur Fan, sondern auch Expertin sei. Schon in der DDR habe sie Spiele im Stadion verfolgt, zum Beispiel die Begegnung DDR gegen England vor 100.000 Zuschauern im Leipziger Zentralstadion, so Schwarte.
Auf die Frage, für wen Angela Merkel bei der WM 1974 im Spiel BRD-DDR wohl gewesen sei, antwortete Schwarte natürlich ahnungslos, aber dennoch überzeugt, dass sich die heutige Bundeskanzlerin nach dem Tor Sparwassers nur geärgert haben könne.
Im Angesicht des sicheren Untergangs von Demokratie und bürgerlicher Verfassung scheint die Legendenbildung alle noch übriggebliebenen Grenzen journalistischer Sorgfaltspflicht zu sprengen. Wie kann man nur darauf kommen, dass Blockflöten anders gepfiffen haben könnten? Selbst in der Wikipedia-Akte über Angela Merkel (Kasner) steht, dass sie im Jahr 1974 weniger mit Fußball als mit Studienreisen nach Moskau und Leningrad beschäftigt war.
Nur woher hat Schwarte die Informationen, die er seinen Hören am Morgen unbedingt mitteilen wollte, bevor die Bundeskanzlerin ihre Regierungserklärung im Bundestag verlas? Von alleine drauf gekommen und selber recherchiert? Aus diversen Artikeln wie dem Springer Medium Berliner Morgenpost wird ersichtlich, dass Mitarbeiter aus dem Kanzleramt jüngst geschworen hätten, die Chefin sei nicht nur Expertin für große Turniere, sondern auch in Sachen Bundesliga und Champions League besonders sachkundig.
In einem anderen Verlautbarungsorgan des Springerkonzerns steht dann genau das, was Schwarte im öffentlich-rechtlichen Rundfunk nur herunterbetete:
Denn man darf begründet vermuten, dass die 19-jährige Studentin mit kirchlichem Familienhintergrund nicht das 1:0 für die DDR durch Joachim Streich in der 66. Minute bejubelte, sondern den Ausgleich der Engländer zwei Minuten später.
In einem Interview vor vielen Jahren hat Merkel einmal angedeutet, dass sie selbst beim legendären „Sparwasser-Tor“, dem Siegtreffer der DDR gegen die BRD im gleichen Jahr, „nicht so glücklich“ war. Merkel schwärmte damals für den Westen nicht so sehr für Westdeutschland.
Unfassbar. Ich hätte auf dem Weg zur Arbeit beinahe die Leitplanke touchiert.
JUN
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.