Ich jedenfalls nicht. Die Richter sagen einerseits, dass die Abweichung des Gesetzgebers von der an sich nicht zu beanstandenden Berechnungsmethode gegen Art. 1 in Verbindung mit Art. 20 Grundgesetz verstoße. Andererseits halten sie die Höhe der Regelsätze, die nun nach dem Spruch der Richter theoretisch auch niedriger liegen können, sofern die künftige Berechnung transparent und realitätsnah erfolge, nicht für einen Verstoß gegen die Menschenwürde (Leistungen seien nicht „evident unzureichend“). Wenn also in diesem Land Löhne und Gehälter sinken und der Ausbau des Niedriglohnsektors weiter voranschreitet, somit auch die Referenzgrößen für die Berechnung der Regelsätze nach unten fallen, dann wäre nach Auffassung der Richter die folglich zu ermittelnde niedrigere Regelsatzhöhe kein Verstoß gegen Art. 1 Grundgesetz. Das kapiere ich einfach nicht.
Als Betroffener haben sie also ein Recht auf eine faire Berechnung, weil eine sachlich unbegründete Abweichung von dieser gegen ihre Menschenwürde verstößt, aber sie haben kein Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum. Das stellen die Richter doch klar heraus?
Dem Gesetzgeber stünde bei der Sicherstellung des Existenzminimums ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Ob das nun Geld- oder Sachleistungen seien, ist den Verfassungsrichtern salopp formuliert egal. Da bleibt der schwarze Gerichtspräsident Hans-Jürgen Papier seiner Linie treu. Er selbst hält ja nicht viel vom Sozialstaat, wie er das in einem Interview mit der FAZ einmal unterstrich:
Ein Rückbau ist nicht verboten
„Die Grundlagen unserer Verfassung basieren auf dem Prinzip der Eigenverantwortung“ und „das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes belässt dem Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum.“
Mir kommt das gesamte Urteil so vor, als wolle das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber nur mitteilen, dass sie sich beim Rückbau des Sozialstaats bitteschön nicht so dämlich anstellen sollen. Deshalb gibt es auch keine Pflicht zur rückwirkenden Neufestsetzung von Regelleistungen für jene Betroffene, gegen deren Menschenwürde verstoßen wurde, sondern eine Gnadenfrist für den Gesetzgeber, den aus meiner Sicht höchstrichterlich tolerierten Verstoß gegen die Menschenwürde nunmehr mit dem Grundgesetz in Einklang zu bringen. Bis dahin darf der festgestellte Verstoß gegen das Grundgesetz und gegen die Menschenwürde mit Billigung des Bundesverfassungsgerichts fortgeführt werden. Die Logik erschließt sich mir nicht.
Wolfgang Lieb von den NachDenkSeiten sieht das ähnlich und stellt nach seiner wie immer sehr lesenswerten Analyse des Urteils abschließend fest:
„Jubel ist fehl am Platze
Wie selbst Betroffene und Sozialverbände dieses Urteil als einen Erfolg für die Armen feiern können und warum gerade noch die mitverantwortliche Ministerin von der Leyen von einem Sieg für die Bildung von Kindern reden können, verstehe ich nicht. Ich erkenne in dem Urteil nicht viele Ansatzpunkte dafür, wie sich dadurch die Situation der Armen im Lande verbessern würde.
Außer dass das Berechnungsverfahren für die Hartz-IV-Regelsätze nachgebessert werden muss, ist kaum etwas gewonnen.
Ja, die besonderen Belastungen müssen berücksichtigt werden und der Aufwand für die Schulbildung der Kinder muss nachvollziehbar berechnet werden. Daraus könnte sich aber bestenfalls die Hoffnung auf eine Erhöhung des Sozialgeldes für Kinder speisen. Doch selbst diese Erwartung dürfte sich nicht kampflos erfüllen lassen.Und was nützt die schönste verfassungsrechtliche Begründung eines individuellen Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, wenn weiter Geringverdiener gegen Hartz-IV-Empfänger aufgehetzt werden und die sog. Leistungsträger Hilfsbedürftige als Schmarotzer abstempeln?
Immerhin müsste die Tatsache, dass nach dem Urteil gegen die Jobcenter nun auch noch die Bemessung der Regelsätze für verfassungswidrig erklärt worden ist, die Politik mit der Nase darauf stoßen, dass die Hartz-Gesetze insgesamt das Grundgesetz strapazieren und endlich eine grundlegende Korrektur erforderlich wäre. Eine Korrektur nämlich, die die Menschenwürde und das Sozialstaatsgebot endlich zu einem konkreten Rechtsanspruch erheben würde, wie das etwa im schwedischen Wohlfahrtsstaatsmodell der Fall ist.“
__________________________________________________________________
Das Urteil im Wortlaut finden sie hier:
http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/ls20100209_1bvl000109.html
FEB
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.