Hartz IV Regelleistungen: Haben sie den Spruch der Verfassungsrichter kapiert?

Geschrieben von: am 10. Feb 2010 um 16:20

Ich jedenfalls nicht. Die Richter sagen einerseits, dass die Abweichung des Gesetzgebers von der an sich nicht zu beanstandenden Berechnungsmethode gegen Art. 1 in Verbindung mit Art. 20 Grundgesetz verstoße. Andererseits halten sie die Höhe der Regelsätze, die nun nach dem Spruch der Richter theoretisch auch niedriger liegen können, sofern die künftige Berechnung transparent und realitätsnah erfolge, nicht für einen Verstoß gegen die Menschenwürde (Leistungen seien nicht „evident unzureichend“). Wenn also in diesem Land Löhne und Gehälter sinken und der Ausbau des Niedriglohnsektors weiter voranschreitet, somit auch die Referenzgrößen für die Berechnung der Regelsätze nach unten fallen, dann wäre nach Auffassung der Richter die folglich zu ermittelnde niedrigere Regelsatzhöhe kein Verstoß gegen Art. 1 Grundgesetz. Das kapiere ich einfach nicht.

Als Betroffener haben sie also ein Recht auf eine faire Berechnung, weil eine sachlich unbegründete Abweichung von dieser gegen ihre Menschenwürde verstößt, aber sie haben kein Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum. Das stellen die Richter doch klar heraus?

Dem Gesetzgeber stünde bei der Sicherstellung des Existenzminimums ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Ob das nun Geld- oder Sachleistungen seien, ist den Verfassungsrichtern salopp formuliert egal. Da bleibt der schwarze Gerichtspräsident Hans-Jürgen Papier seiner Linie treu. Er selbst hält ja nicht viel vom Sozialstaat, wie er das in einem Interview mit der FAZ einmal unterstrich:

Ein Rückbau ist nicht verboten

„Die Grundlagen unserer Verfassung basieren auf dem Prinzip der Eigenverantwortung“ und „das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes belässt dem Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum.“

Mir kommt das gesamte Urteil so vor, als wolle das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber nur mitteilen, dass sie sich beim Rückbau des Sozialstaats bitteschön nicht so dämlich anstellen sollen. Deshalb gibt es auch keine Pflicht zur rückwirkenden Neufestsetzung von Regelleistungen für jene Betroffene, gegen deren Menschenwürde verstoßen wurde, sondern eine Gnadenfrist für den Gesetzgeber, den aus meiner Sicht höchstrichterlich tolerierten Verstoß gegen die Menschenwürde nunmehr mit dem Grundgesetz in Einklang zu bringen. Bis dahin darf der festgestellte Verstoß gegen das Grundgesetz und gegen die Menschenwürde mit Billigung des Bundesverfassungsgerichts fortgeführt werden. Die Logik erschließt sich mir nicht.

Wolfgang Lieb von den NachDenkSeiten sieht das ähnlich und stellt nach seiner wie immer sehr lesenswerten Analyse des Urteils abschließend fest:

Jubel ist fehl am Platze

Wie selbst Betroffene und Sozialverbände dieses Urteil als einen Erfolg für die Armen feiern können und warum gerade noch die mitverantwortliche Ministerin von der Leyen von einem „Sieg für die Bildung von Kindern“ reden können, verstehe ich nicht. Ich erkenne in dem Urteil nicht viele Ansatzpunkte dafür, wie sich dadurch die Situation der Armen im Lande verbessern würde.

Außer dass das Berechnungsverfahren für die Hartz-IV-Regelsätze nachgebessert werden muss, ist kaum etwas gewonnen.
Ja, die besonderen Belastungen müssen berücksichtigt werden und der Aufwand für die Schulbildung der Kinder muss nachvollziehbar berechnet werden. Daraus könnte sich aber bestenfalls die Hoffnung auf eine Erhöhung des Sozialgeldes für Kinder speisen. Doch selbst diese Erwartung dürfte sich nicht kampflos erfüllen lassen.

Und was nützt die schönste verfassungsrechtliche Begründung eines individuellen Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, wenn weiter Geringverdiener gegen Hartz-IV-Empfänger aufgehetzt werden und die sog. Leistungsträger Hilfsbedürftige als Schmarotzer abstempeln?

Immerhin müsste die Tatsache, dass nach dem Urteil gegen die Jobcenter nun auch noch die Bemessung der Regelsätze für verfassungswidrig erklärt worden ist, die Politik mit der Nase darauf stoßen, dass die Hartz-Gesetze insgesamt das Grundgesetz strapazieren und endlich eine grundlegende Korrektur erforderlich wäre. Eine Korrektur nämlich, die die Menschenwürde und das Sozialstaatsgebot endlich zu einem konkreten Rechtsanspruch erheben würde, wie das etwa im schwedischen Wohlfahrtsstaatsmodell der Fall ist.“

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Das Urteil im Wortlaut finden sie hier:
http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/ls20100209_1bvl000109.html

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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Kommentare

  1. Arnold  Februar 10, 2010

    Ich lese gerade das Buch „Jenseits von Gut und Böse“ von Michael Schmidt-Salomon. – Kann ich jedem wärmstens weiterempfehlen und ganz besonders Herrn Papier – Schmidt-Salomon liefert in diesem Buch eine gute Erklärung wie solch ein Gerichtsurteil zustande kommen kann:
    Unser Gesetz geht davon aus, dass der Mensch in seinem Willen nicht frei ist. Das heißt jeder Mensch wird das was er wird aufgrund äußerer Umstände. Hartz IV Empfänger sind also Opfer der Umstände und als solche Menschenwürdig zu behandeln. Die hier maßgeblichen Richter gehen davon aus, dass der Mensch einen freien Willen hat. Die logische Folgerung ist, dass jeder Hartz IV Empfänger an seinem Schicksal selbst Schuld ist und somit die Konsequenzen auch voll zu tragen hat. Nun mussten die Richter auf der einen Seite dem Gesetz folgen, hatten aber andererseits auch einen gewissen Gestaltungsspielraum, in dem sie ihrer Überzeugung Ausdruck gaben und schon haben wir ein Urteil, dass in sich nicht ganz widerspruchsfrei ist.

    • adtstar  Februar 10, 2010

      Danke für den Hinweis.

  2. Arnold  Februar 10, 2010

    Nachtrag:
    Hier möchte ich noch Herrn Papier ausdrücklich widersprechen:
    Die Grundlagen unserer Verfassung basieren im Gegensatz z.B. zum Recht des Nationalsozialismus gerade nicht auf dem Prinzip der Eigenverantwortung. Was man z.B. daran merkt, dass wir keine Todesstrafe mehr haben.

  3. missmarps  Februar 10, 2010

    Solange es immer noch Menschen gibt, die von Hartz IV besser leben, als wenn sie arbeiten würden, finde ich dieses Urteil völlig daneben.
    Man hätte die Kinder viel besser unterstützen können, wenn es eine Art Nachhilfe und/oder Freizeitmöglichkeiten in der Schule geben würde. Da würden das Geld auch nicht für Zigaretten und Alkohol ausgegeben werden. Leider ist Hartz IV auch ein Bildungproblem. Guckt euch doch mal die armen Leute an, die Hartz IV erhalten, dass sind leider doch die, die ganz unten sind. Nur in wenigen Fällen ist es anders…und da ist es meistens so gewollt.
    Nur sehr wenige trifft es ungerecht, aber die tuen dann auch alles, um da wieder rauszukommen.
    Und wieso ist eigentlich der Staat für alles verantwortlich. Jeder ist seines Glückes eigener Schmied.

    • adtstar  Februar 10, 2010

      Bitte nicht den sog. Qualitätsmedien auf den Leim gehen und das neoliberale Geblubber einfach nachbeten. Wenn man Menschen vorwirft, sie würden ihr Geld nur für Tabak und Alkohol ausgeben, sollte auch der Beweis geführt werden. Ich fürchte nur, dass dieser Beweis bei den Steuerhinterziehern sehr viel einfacher zu führen ist, als bei Hartz IV Empfängern, die eben nicht besser leben als jemand der arbeitet. Diese Rechnungen, die da durch die Gazetten gereicht werden, stimmen nachweisbar alle nicht.

      Ohne den sich immer weiter ausbreitenden Niedriglohnsektor, der auch politisch gewollt war und ist, müsste man sich nicht über ein fiktives Lohnabstandsgebot unterhalten und es so erscheinen lassen, als gönne man sich mit Hartz IV einen Luxus und der, der arbeitet sei dagegen der Dumme. Das ist billigste Bild-Hetzerei, die nur den Zweck verfolgt, Geringverdiener gegen Hartz-IV-Empfänger in Stellung zu bringen und damit vom Versagen der politisch Verantwortlichen abzulenken.

      Die Formel, jeder ist seines Glückes Schmied stimmt einfach nicht und ist in Wahrheit hohle Propaganda der Marktdogmatiker, die sich auf eine formale Rechtsposition (Vertragsfreiheit) zurückziehen. Die Gesellschaft folgt aber Gesetzen bzw. einem Vertrag und nicht dem Glück. Der Gesellschaftsvertrag, in dem nicht nur Rechte, sondern auch der Ausgleich zwischen Kapital und Arbeit geregelt sein muss, also die soziale Frage beantwortet ist, bedarf der ständigen Überprüfung.

      Denn jeder Glücks-Schmied erreicht seinen Reichtum nicht durch Glück, sondern durch Arbeitsteilung. Er ist also Nutznießer eines Gemeinwesens oder eines Systems, dass aus sich heraus und völlig naturwüchsig Gewinner und Verlierer produziert. Dieser grundsätzliche Widerspruch, der sich in der Krisenhaftigkeit äußert, bedarf zwingend eines Ausgleichs (durch Steuern, Sozialstaat, Chancengleichheit, etc.) wenn man die Zusammenbruchskrise vermeiden will.

      Nach der Periode 1929-1945 hatten das alle politischen Kräfte auf der Welt kapiert. Sogar Liberale und Christdemokraten in Deutschland.

      • missmarps  Februar 11, 2010

        Ich kenne einige Menschen aus der Rubik Hartz IV und habe aber auch extra darauf hingewiesen, dass es nicht grundsätzlich so zu sehen ist.
        Ursprünglich komme ich nämlich aus der „Unterschicht“ (wie sie von vielen genannt wird).
        Das ist leider oft die Realität und hat nichts mit Medien zu tun.
        Grundsätzlich befürworte ich unseren Sozialstaat auch, aber manche sind noch im Kommunismus hängen geblieben.
        Ich würde mir einfach mehr Eigenverantwortung wünschen.
        Und mir ist durchaus klar, dass Hartz IV ein Teufelskreislauf ist und wenn man einmal in Deutschland arbeitslos war, nur selten eine neue Chance auf dem Arbeitsmarkt hat.

  4. Einhard  Februar 10, 2010

    Könnten die Regelsätze tatsächlich niedriger liegen..?

    Ich denke nicht, denn wie ausgeführt – so wie sie derzeit sind, sind sie offensichtlich nicht zu niedrig.

    Auch wenn der Gesetzgeber nun theoretische Gestaltungsspielräume bei der Neuberechnung hat, so ist ihm die Berechnungsgrundlage ja deutlich vorgegeben: nämlich die aktuelle, allerdings müssen im Gegensatz zur bisherigen Methode alle Abzüge sachgerecht und nachvollziehbar begründet werden.

    Das läßt wenig Spielraum.

    Eine andere Berechnungsmethode/-basis zugrunde zu legen ist de facto nicht möglich, da ja die tatsächliche zukünftige Höhe erst ermittelt werden muß und nicht bereits jetzt feststeht; dmeentsprechend kann aus der Referenzgruppe die Anzahl der Transferleistungsempfänger nicht bestimmt werden :>

    • adtstar  Februar 10, 2010

      Um darauf mit Wolfgang Lieb zu antworten:

      „Das Gericht hält die statistische Methode der Festlegung des Leistungsumfangs an Hand der Verbrauchsausgaben von Haushalten der unteren Einkommensgruppen für verfassungsrechtlich zulässig. Das schließt in seiner Logik sogar eine Senkung der Regelsätze nicht aus, etwa wenn immer mehr Menschen dieser 20% der unteren Einkommensbezieher in immer niedrigere Löhne abrutschen.“

      Ich persönlich gehe auch nicht davon aus, dass die Leistungen noch einmal sinken. Darum ging es mir jetzt auch nicht konkret, sondern darum, welcher Logik das Bundesverfassungsgericht folgt, wenn es mit den Grundrechten hantiert. Das ist beängstigend.

  5. Anonymous  Februar 10, 2010

    Um auf die Verantwortung des Staates zu der Situation Hartz-IV-Empfänger und Niedriglohnsektor zu kommen:
    Natürlich ist nicht jeder seines Glückes Schmied, wenn der Staat seine Verantwortung nicht wahrnimmt. Seit Jahren wird durch die Exportorientierung Lohndumping betrieben, in Folge die Binnennachfrage gesenkt und der Einzelhandel der Talfahrt überlassen, die Unternehmenssteuern gesenkt und Leistungen der Kommunen gleich dazu, öffentliche Stellen gestrichen (ausser in den Ministerien, da kommen Stellen dazu), Reiche dürfen Steueropfer sein, Arme müssen auch 20€ zuviel überwiesenes Kindergeld zurückzahlen, den Verwaltungsaufwand übernehmen die noch steuerzahlenden Bürger, die Medien werden vom verantwortlichen Staat gehätschelt und betreiben Manipulation statt Information…ähhhh, hab‘ ich was vergessen?

  6. Finkeldey  Februar 11, 2010

    selbst ein so hervorragender Mann wie Butterwege feiert das Urteil ab: http://www.nachdenkseiten.de/?p=4518

    wenn der sich da mal nicht wundern muss…

    Butterwege: „Auch Gutscheine sind keine Lösung, weil sie letztlich eine weitere Diskriminierung von Armen bedeuten. „

    Ja sicher, nur: genau diese Gutscheine werden jetzt doch gefordert. Ich höre es schon bei Budni an der Kasse: „TIIIINA, Wie rechnet man nochmal die HARTZER_GUTSCHEINE ab!“ Viel Spaß beim Prangerstehen!

    (Nebenbemerkung: Ich bin bereit, ergebnisoffen über Gutscheine zu reden, wenn es Gutscheine FÜR ALLE ELtern = ohne Diskriminierung gibt…)