Die Sanktionen, die der Gesetzgeber für den Fall von Pflichtverletzungen bei der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt vorsieht, sind teilweise verfassungswidrig. Das Bundesverfassungsgericht gibt der Bundesregierung damit eine Hausaufgabe auf, setzt aber auch selbst eine Übergangsregelung in Kraft, um die Lage der Betroffenen sofort zu verbessern. Nur ändert das nichts daran, dass die verfassungswidrigen Regelungen, trotz aller Hinweise und Urteile von Landessozialgerichten, die es gegeben hat, bereits seit 2005 existieren. Es wird also schon seit 14 Jahren ganz bewusst gegen Artikel 1 und Artikel 20 des Grundgesetzes verstoßen.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom Dienstag zu der Sanktionspraxis im Sozialgesetzbuch II eine eigene Übergangsregelung in Kraft gesetzt und damit darauf verzichtet, dem Gesetzgeber eine Frist vorzugeben, innerhalb der er ein verfassungskonformes Gesetz beschließen muss. Das zeigt, wie wichtig es dem Gericht ist, dass elementare Grundrechte wie die Menschenwürde sowie das unabänderliche Sozialstaatsprinzip gewahrt bleiben müssen. Beides duldet keinen Aufschub. So gesehen ist das auch ein klares Urteil gegen diese und vorherige Bundesregierungen, die einen verfassungswidrigen Zustand immer wieder tolerierten und zum Teil ganz abenteuerlich verteidigten.
Unter normalen Umständen wäre das ein Grund für einen Rücktritt oder für Sanktionen gegen den Gesetzgeber. Aber im Unterschied zu den Bedürftigen, die auf staatliche Leistungen angewiesen sind, gelten für die Parlamentarier, die auch auf staatliche Leistungen angewiesen sind, andere Regeln. Sie dürfen weiter regieren und das nächste verfassungswidrige Gesetz beschließen, weil sie wissen, dass ein Urteil mitunter erst Jahrzehnte später gefällt werden wird und zwar auch noch von Richtern wie Stephan Harbarth, die vorher in politischer Verantwortung stehend, das in Teilen verfassungswidrige Gesetz erst mit ermöglichten.
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Einige Reaktionen aus dem Netz:
Machen wir uns aber nichts vor. Es ist schon ein Trauerspiel, dass das Verfassungsgericht mit der Würde des Menschen vorrücken muss, um Gesetze von Politiker*innen, die sich zur Sozialdemokratie zählen, teils zu kippen. Ein weiterer Beleg für den Zustand der Sozialdemokratie. :(
— Maskenfall (@maskenfall) November 5, 2019
Wenn ich es richtig verstanden habe, hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass das Existenzminimum 70% des Existenzminimums beträgt #HartzIV
— bootboss (@bootboss) November 5, 2019
"…In Summe ein enttäuschendes Urteil. #Sanktionen werden als adäquates Mittel eingestuft… #Menschenwürde wird zwar der Entscheidung zugrunde gelegt, aber nicht ernst genommen…" @grundrechte1 https://t.co/DeVUFw1xHk #Hartz
— OXI (@oxi_blog) November 5, 2019
Erster Satz vom @spdbt-FV Rolf Mützenich zum #HartzIV-Urteil des Bundesverfassungsgerichts heute: "Das Gericht hat die #Mitwirkungspflicht erneut herausgestellt."
Ist es wirklich so schwer, die Betroffenen um Verzeihung zu bitten, dass man sie verfassungswidrig behandelt hat?
— Daniel Reitzig (@danielreitzig) November 5, 2019
NOV
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.