Blog.de ist überraschenderweise früher wieder online. Daher kommt jetzt schon mein Text.
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Seit Wochen macht sich die Nation Sorgen um die Kanzlermehrheit, obwohl die Abstimmung zum erweiterten Rettungsschirm nie auf der Kippe stand. Es gibt ja noch die SPD, die in entscheidenden Fragen schon immer treu zu Merkel stand. Nicht umsonst hatte Obergenosse Gabriel nach der Berlin-Wahl angeboten, seine Partei für die FDP auf die Regierungsbank einwechseln zu dürfen. Aber letztlich wird die Kanzlermehrheit halten. Und mal ehrlich, das ist doch auch klar?
Merkel braucht nicht einmal das Instrument der Vertrauensfrage, das seltsamerweise in der zum Teil hysterisch geführten Diskussion kaum besprochen wurde. Als Kanzler Schröder 2001 um Zustimmung bat, die Bundeswehr in den Krieg nach Afghanistan zu schicken, gab es ebenfalls eine breite Mehrheit im hohen Haus. Weil aber die Regierungsmehrheit zu kippen drohte, verband Schröder die Sach- mit einer Vertrauensfrage und zwang so die Opposition zur Ablehnung in der Sache und die eigene Koalition, ihm das Vertrauen auszusprechen. Strenggenommen hat damals niemand für den Krieg votiert, sondern nur für oder gegen den Kanzler Schröder.
Heute hätte Angela Merkel es genauso machen können. Braucht sie aber nicht, weil sie den Bundestag nicht als Showarena versteht, mit der man dem Volk noch Demokratie vorspielen muss. Sie weiß genau, dass das Parlament ihr willfährig folgt, weil Schröder es seinerzeit beerdigt hat. Die letzte Vertrauensfrage im Deutschen Bundestag wurde 2005 mit dem Ziel gestellt, sie zu verlieren und somit eine Auflösung des Parlaments herbeizuführen. Begründung war damals, die Regierung könne keine Gesetze mehr beschließen. Allerdings wurden noch zahlreiche Projekte durch rot-grün verabschiedet, bevor Schröder seine fingierte Vertrauensfrage einbrachte und vom Rednerpult seine angebliche Handlungsunfähigkeit beweinte.
Die spätere Bundestagsneuwahl erfolgte unter der Bedingung eines verfassungswidrigen Wahlgesetzes. Und auch 2009 wurde erneut verfassungswidrig gewählt. Bis Ende 2011 muss das Wahlrecht so geändert werden, dass es dem Grundgesetz entspricht. Diese Auflage hat das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber bei seinem Urteil im Jahr 2008! mitgegeben. Seitdem ist aber nichts passiert. Wenn nun also im Jahr 2013 oder bereits vorher wieder gewählt wird, ist doch die Frage juristisch berechtigt, ob man sich als Wähler eventuell strafbar macht. Schließlich würde man mit seiner Stimmabgabe so etwas wie Beihilfe zum Verfassungsbruch leisten. Und jedes Wahlplakat wäre im Prinzip eine Anstiftung zum Verfassungsbruch.
Das wurde im Gespräch mit dem neuen Anstaltsjuristen Max Uthoff deutlich, der in der ZDF-Kabarettsendung zugleich nüchtern feststellte, dass ungültige und gültige Wahlen sich nicht wesentlich voneinander unterscheiden. Schließlich habe die Macht der Finanzmärkte gezeigt, dass auch gültige Wahlen sinnlos wären.
Das alles muss man wissen, wenn man auf die heutige Abstimmung im Bundestag schaut und verstehen will, warum die Amerikaner mit German Eiertanz einen neuen Begriff in ihren Sprachgebrauch aufgenommen haben. Alle wollen den Euro, die Währungsunion und Griechenland irgendwie retten. Die Bundesregierung lehnt aber alles ab, was bisher vorgeschlagen wurde. Eurobonds, eine Transferunion und eine europäische Wirtschaftsregierung passen nicht ins Konzept der Kanzlerin, obwohl alle drei Dinge in Teilen bereits umgesetzt werden.
Die Täuschung des Souveräns ist bei Merkel Chefsache oder eine Aufgabe der Exekutive. Das Parlament ist überflüssig, hat sich selbst überflüssig gemacht. Der Hype um die Frage, ob heute Mittag eine Kanzlermehrheit zu Stande kommt, ist daher nicht zu verstehen. Unter Merkel ist der Wandel zur Kanzlerdemokratie abgeschlossen worden, und der Bundestag nur noch ein Anhängsel, in dem die Vorgaben der Exekutive formal abgenickt werden.
Warum fragt eigentlich niemand die Abgeordneten, die mit Blick auf die Erweiterung des Eurorettungsschirms wochenlang so trefflich demokratisch streiten und ihre Entscheidung offenhalten, wieso sie binnen einer Woche dem ersten Rettungsschirm von über 480 Mrd. Euro ohne mit der Wimper zu zucken zustimmten und auch die Griechenlandrettung und die Einrichtung des ersten europäischen Rettungsfonds ebenfalls binnen einer Woche Milliarden locker machten. Und was ist mit den acht Gesetzen zum Atomausstieg, der Endlagerfrage und die Erneuerbaren Energien betreffend, als die Regierung vor der Sommerpause dem Parlament 700 Seiten Gesetzestext vorlegte und binnen drei Tagen eine Entscheidung des Parlaments einforderte?
Es geht doch nicht um die Frage, ob es zur Kanzlermehrheit reicht, sondern darum, was die Regierung und die Opposition unter Demokratie versteht. Der German Eiertanz ist doch bloß der durchschaubare Versuch, dem Volk die marktkonforme Demokratie schmackhaft zu machen. In diesem Zusammenhang ist Pelzigs Frage berechtigt.
Was soll der Unterschied sein zwischen jugendlichen Plünderern in London und den Gewinnzielen der Deutschen Bank?
SEP
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.