Das Ganze ist immer mehr als die Summe seiner Teile – Die Reform des Denkens ist die wichtigste!

Geschrieben von: am 08. Jun 2010 um 12:48

Es ist sehr interessant zu sehen, wie aufgeschreckt die Medien und beinahe die gesamte Öffentlichkeit die Sparabsichten der Bundesregierung bewerten und zur Kenntnis nehmen. Die Diskussion dreht sich dabei vor allem um die Frage, ob das, was da von Merkel und Westerwelle vorgeschlagen wurde, sozial gerecht sei. Entschuldigung, aber diese, auf dem üblichen Reflex beruhende Frage, stellt sich überhaupt nicht. Man sollte sich endlich einmal klarmachen, dass die Regierung lediglich ein weiteres Mal ein Glaubensbekenntnis von sich gegeben hat, welches noch immer bar jeder ökonomischen Erfahrung und Vernunft ist.

Wir können uns also wirklich die Diskussion um die soziale Frage sparen. Sie vergeudet nur Zeit. Auch die Linken sollten weniger über die soziale Gerechtigkeit und soziale Kälte jammern und stattdessen aufklärerische Religionskritik betreiben. Das dumme dabei ist nur, dass wahrscheinlich auch die Linken zum Teil dem Irrglauben der herrschenden Lehre erlegen sind und ökonomische Zusammenhänge nur schwer begreifen. Ich denke da insbesondere an die noch immer völlig dumme Annahme, durch volkswirtschaftliches Sparen tatsächlich Schulden abbauen zu können. Aber dazu später mehr.

Zunächst einmal ist das Gerede über die soziale Kälte ganz im Sinne der Dogmatiker, die einfach nur anhand von konstruierten Beispielen zu erwidern brauchen, dass ihr Sparkonzept doch sozial gerecht sei oder wie Frau von der Leyen es vormacht, einfach die Bedürfnisse einer sozialen Gruppe gegen die einer anderen auszuspielen, um dann zu sagen, das sei sozial gerecht. Und schon kann man ganze TV-Sendungen über lange Zeit hinweg bestreiten, ohne auch nur einen einzigen Gedanken an die praktische Tauglichkeit des vorgeschlagenen Irrwegs verlieren zu müssen. Dieses hirnrissige Programm zuvorderst unter dem Gesichtspunkt der sozialen Gerechtigkeit zu diskutieren ist gleichwohl hirnlos und schwach. Es gibt viel bessere Argumente gegen den Unfug, der da verbreitet und von Scheinwissenschaftlern wie Professor (Un)Sinn begrüßt wird.

Das zweifellos wichtigste Argument ist das der Erfahrung. Die gesellschaftliche Erfahrung widerlegt eindrucksvoll den bekundeten Glauben von Merkel und Co., durch Sparen öffentliche Verschuldung abbauen zu können. Noch nie hat das hier in Deutschland oder sonstwo auf der Welt funktioniert, egal wie „hart“, „knallhart“ oder „brutal“ diese Sparabsichten angekündigt und auch durchgesetzt wurden. Es gibt dafür einen einfachen Grund, den jeder Mensch sofort begreift, wenn er ihn sich nur einmal vergegenwärtigen würde.

Der Staat ist kein Individuum! Zwischen dem Staat und dem Individuum gibt es eine Differenz!

Folglich kann der Staat auch nicht derselben Behandlung unterzogen werden, wie ein Individuum, wenn es in finanzielle Schwierigkeiten gerät. Doch diesen Eindruck versuchen Merkel, Westerwelle und die gesamte Medienlandschaft permanent zu erwecken, wenn sie etwa davon sprechen, dass man nicht mehr ausgeben könne, als man einnähme. Diese Aussage ist gleich doppelt falsch und zeigt, dass die selbsternannten Marktwirtschaftler noch viel weniger von Wirtschaft verstehen, als ohnehin befürchtet.

Das Grundprinzip einer jeden Marktwirtschaft ist Verschuldung. Ohne Verschuldung einerseits und risikobereiter Gläubiger andererseits gäbe es überhaupt keine Marktwirtschaft. Denn das Ziel ist doch der Gewinn für beide Seiten. Selbst ein Individuum muss sich verschulden, wenn es eine unternehmerische Idee in die Tat umsetzen will oder einfach nur eine Immobilie erwerben möchte. Gleichzeitig muss es einen Gläubiger geben, der die unternehmerische Idee für so profitabel hält, dass es sich für ihn lohnt, auf seinen gegenwärtigen Konsumanspruch zu Gunsten des Schuldners zu verzichten und gegen einen zukünftigen Konsumanspruch einzutauschen. Im Mikrokosmos der Marktwirtschaft geht es also nur um das Verschieben von Eigentumsrechten. Mehr nicht. Aber nicht einmal das, haben Merkel und ihr Mister Sachverstand, weil in der FDP, Westerwelle verstanden. Wie auch? Mit realer Wirtschaft in Form von Erwerbsarbeit oder Unternehmensführung sind diese notorischen Steuergeldabgreifer noch nie in Berührung gekommen. Sie verfügen also über keinerlei Erfahrung, bilden sich aber ein, einen Blick für’s Ganze zu haben. Woher nur?

In einer Volkswirtschaft ist nun dieser Prozess des Verleihens von Konsumansprüchen der Menschen untereinander, also das individuelle Sparen, nicht relevant, da die Summe der gegenwärtigen Konsumansprüche immer gleich der Summe des volkswirtschaftlichen Einkommens und gleich der Summe der produzierten Güter ist. Im Makrokosmos einer Volkswirtschaft gelten also völlig andere Bedingungen. Und da trifft die Hegelsche Philosophie die praktische Theorie des Ökonomen Keynes. Das Ganze ist immer mehr als die Summe seiner Teile, schrieb Hegel mit Blick auf die Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung im 19. Jh. Dieser Satz gilt auch für die Ökonomie. Was für Unternehmen und Induviduen objektiv richtig ist, nämlich zu sparen, um mehr Geld zu haben, welches man in die Zukunft transferieren könne, ist in der Summe aller Teilglieder falsch. Würden nämlich alle gleichzeitig sparen und der Staat steht stellvertretend für das Ganze, erzielt man keinen Spareffekt, also hartes Geld, welches man in die Zukunft transferieren könnte, um beispielsweise bestehende Schulden abtragen zu können, sondern gerade weniger volkswirtschaftliches Einkommen, bei gleich bleibenden Forderungen der Gläubiger.

Denn wenn man die Summe gegenwärtiger Konsumansprüche in einer volkswirtschaftlichen Dimension kürzt, dann mindert man unweigerlich auch die Summe des volkswirtschaftlichen Einkommens um genau diesen Kürzungsbetrag. Denn irgend ein Wirtschaftssubjekt bleibt auf seinem Angebot sitzen, wenn es am Markt nur Teilnehmer gibt, die nach zukünftigen Konsumansprüchen nachfragen, also Sparen wollen, und nicht nach gegenwärtigen. Es gilt daher der Satz:

Die Summe der Einnahmen aller Wirtschaftssubjekte ist immer gleich die Summe der Ausgaben aller Wirtschaftssubjekte.

Sparen nun alle, sinkt auch das volkswirtschaftliche Einkommen. Das ist nicht nur ökonomische Theorie, sondern die gesellschaftliche Erfahrung seit Jahrzehnten. Warum ist nun das deutsche Volkseinkommen trotzdem gestiegen, obwohl permanent im Innern gespart wurde? Weil es mehrere Schuldner gab. Giechenland, Portugal, Spanien, Italien und Frankreich. Im Prinzip die gesamte Europäische Union weist mit Deutschland eine negative Handelsbilanz auf. D.h. diese Länder haben sich öffentlich so sehr verschuldet, um unser Volkseinkommen finanzieren zu können. Warum haben die das getan? Weil sie dadurch wirtschaftlich aufholen konnten und ihre Gesellschaften im Rahmen der Europäischen Verträge und der europäischen Idee modernisierten.

Dafür, dass sie den europäischen Vereinbarungen folgten, werden sie nun bestraft. Bis zum Ausbruch der Finanzkrise galten die südeuropäischen Länder als Vorzeigeökonomien, mit viel Wachstum, viel Investitionen und viel Beschäftigung. Nahezu alle Länder wiesen in der Zeit zwischen den Jahren 2002 und 2007 ein deutlich höheres Wachstum auf als Deutschland, das unter dem EU-Schnitt vor sich hin dümpelte und eine Sparklausur nach der anderen erlebte. In Spanien wurde die Staatsverschuldung demzufolge auch abgebaut. In Deutschland gelang das trotz der Eichelschen und Steinbrückschen Sparabsichten nie.

Dabei hätte man die aus dem Außenhandel erzielten Gewinne einfach nur auf den Binnenmarkt umleiten müssen in Form von höheren Löhnen und Sozialleistungen. Kurz: mehr Konsum. Das wäre dann auch EU konform gewesen. Die deutsche Innlandsverschuldung ist ja nur deshalb so hoch, weil es sich die deutsche Politik zur Aufgabe gemacht hat, auf Steuereinnahmen grundsätzlich zu verzichten. Zuletzt praktiziert bei der absurden Befreiung der Hoteliers von der vollen Mehrwertsteuerbelastung bei Übernachtungen. Gleichzeitig gehört es zu den zentralen Aufgaben einer jeden deutschen Regierung, bei den Ausgaben und den Löhnen zu sparen. Mindestens so lange, bis der Finanzminister einen ausgeglichenen Haushalt präsentieren kann. Welchen Sinn das auch immer haben mag. Mit einer Politik des Steuerdumpings und einer Wirtschaft mit extremer Exportorientierung konterkariert Deutschland jedenfalls seit Jahren das Stabilitäts- und Stärkeversprechen des europäischen Wirtschaftsraums.

Statt die Exportgewinne durch eine strikte Vermögens- und Einkommensbesteuerung einfach abzuschöpfen, sah man zu, wie das viele Geld von Spekulanten auf den Finanzmärkten Gassi getragen wurde und als Teil krimineller Geschäfte erheblichen volkswirtschaftlichen Schaden anrichten durfte und noch immer darf. Unser Problem ist also nicht die öffentliche Verschuldung oder die Sprengkraft der sozialen Frage, sondern eine nach wie vor falsche Wirtschaftspolitik ohne Regeln für die Finanzmärkte und eine Politik, die sich freiwillig in die Hände der Finanzwirtschaft begeben hat. Solange daran nichts geändert wird, führt jeder noch so hart formulierte Irrglaube, mit Sparen irgendetwas retten zu können, unweigerlich zu einem Desaster. Und spätestens bei einer neuerlich stattfindenden großen Zusammenbruchskrise wird auch der letzte merken, dass es nicht um sozial oder unsozial geht, sondern um Leben und Tod.

Die Reform des Denkens ist die wichtigste!
(siehe Heiner Flassbeck u. Friederike Spiecker, Das Ende der Massenarbeitslosigkeit)

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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Kommentare

  1. Einhard  Juni 8, 2010

    Schau mal bitte – wäre das evtl. was für Dich: http://alterknacker.blog.de/2010/06/08/werbung-8759973/

  2. Henster  Juni 8, 2010

    Alles absolut richtig. Erst richtet der „Exportweltmeister“ andere EU-Staaten zugrunde, dann spart er sich selbst kaputt. And the winner is, mal wieder, Ackermann und Konsorten.

  3. Notizen an das Leben  Juni 8, 2010

    Hirn aus? Ja, Hirn ist aus!
    Der Inhalt der Überschrift dieses Blog-Eintrages könnte sich so in etwa an der Theke eines Metzgerladens abgespielt haben. Wahrscheinlicher ist aber, dass dieser Kurzdialog letztes Wochenende bei der Klausurtagung der Regierungsparteien statt gefunden …

  4. madFox  Juni 8, 2010

    Danke für diesen Aspekt in deinem Beitrag!

    Ich selbst gehöre auch zu den Leuten, die nur ein sehr eingeschränktes ökonomisches Wissen haben, weshalb ich vieles nur glauben kann.
    Wissen ist da wenig, zumal es mir schwer fällt, die verschiedenen Argumente richtig zu gewichten.

    Ich nehme gerne den gesamten Planeten als Grundlage meiner Betrachtung. Nicht weil ich den Überblick hätte, sondern, weil dies ein Rahmen ist, dem keiner entfliehen kann.
    So gesehen geht es tatsächlich um Leben oder Tod für viele Menschen – egal, ob wir sparen oder nicht.

    Wenn es stimmt, daß dem Finanzkapital nur etwa ein Zehntel an realem Sachwert gegenübersteht, kann mir schwindelig werden.
    Ich denke schon, daß auch die Frage der gerechten Verteilung von Vermögen von Belang ist, denn die Signale der Entscheidungsträger führen zu einer Angst, die dazu führen kann, daß selbst bei relativem Wohlstand der Bundesbürger die gefühlte Ungerechtigkeit zu innerstaatlichen Reibungen führen kann, die letztlich noch teurer werden. Immerhin wird der Wert der sog. Solidargemeinschaft sehr oft bemüht.

    Ökologisch schädliche Subventionen könnte man abschaffen (Steinkohle, Verkehr,…)
    48 Mrd. € pro Jahr (Umweltbundesamt).
    Warum wurde die Vermögenssteuer nicht erhöht?
    25 bis 75 Mrd. € pro Jahr.
    Die Finanztransaktionssteuer würde bei 0,1 % etwa
    270 Mrd € pro Jahr für ganz Europa einbringen.

    Diese Maßnahmen erscheinen mir zumindest plausibel, selbst wenn ich nicht alle Folgen abschätzen kann – aber wer kann das schon?

    Selbst wenn Deutschland das Umlenken der Gelder zu Gunsten der Binnennachfrage geschafft hätte, der Konsum würde die endlichen Ressourcen dieses Planeten weiterhin plündern.

    Aber vielleicht kommt ja noch ein bisher unbekannter kreativer Schub, auf den einige Fortschrittsgläubige hoffen.

    Alles Gute

  5. Susan  Juni 9, 2010

    Diesen Artikel sollte ausnahmslos jeder lesen. Er ist sowas von logisch. Das kapitalistische System ist auf Konsum ausgelegt. Wer Konsum (man mag dazu stehen, wie man will) abdrosselt, hat das System nicht verstanden oder will es nicht verstehen zu Lasten aller.