Alles spricht von „Lügenpresse“ und dem Vorwurf einer bewussten Täuschung durch Journalisten. Wer aber solch ein Verhalten unterstellt, unterstellt auch Sachkenntnis, die nötig ist, um Wahrheit verdrehen oder leugnen zu können.
Viele Leitartikler blamieren sich aber nicht, weil sie um die Wahrheit Bescheid wüssten, sie blamieren sich, weil sie die Wirklichkeit eben nicht kennen und lieber darauf vertrauen, was seit Jahren falsch geglaubt und vorgebetet wird.
Ein Beispiel: Meine Tageszeitung hat sich im heutigen Leitartikel (leider nur im Abo vollständig abrufbar) für das Thema Tarifpolitik entschieden. Darin beschäftigt sich der Autor mit den gleichzeitig anstehenden Verhandlungen in zahlreichen Branchen. Ihm fällt dabei auf, dass es den Gewerkschaften nicht mehr so sehr um Prozente gehe. „Als Konsens haben sich 5,5 Prozent durchgesetzt.“ (die ver.di-Forderung von 11 Prozent hat der Autor im Artikel nicht genannt)
Das Denken wird abgebrochen
Im Vergleich zu anderen Jahren klinge das nicht nach viel, fährt er fort. Statt aber diesen Anflug eines komischen Gefühls weiter zu ergründen und sich zu fragen, warum es eigentlich mehr an Entgeltforderung sein müsste, bricht der Autor das Denken ab und bringt die einfach anmutende wie gängige These an: „Allerdings wären gewaltige Steigerungen auch nicht zu begründen.“ Das muss er natürlich erklären und schreibt dann vermeintlich sicher:
„Lohnerhöhungen sollen in erster Linie dem Inflationsausgleich dienen und erreichte Produktivitätssteigerungen abbilden. Nur: Ersterer nähert sich gerade der Nulllinie, und Letztere bewegen sich vielleicht bei etwas mehr als einem Prozent. Hinzu kommt, dass Deutschland in den vergangenen Jahren bei der Reallohnentwicklung kräftig aufgeholt hat die Tarifgehälter also deutlich schneller stiegen als die Inflation und die Saläre im europäischen Nachbarland.“
Was fängt man jetzt damit an? Offensichtlich weiß der Autor nicht, dass die Entwicklung der Inflationsrate, die 2014 im Schnitt bei 0,9 Prozent lag, von der Entwicklung der Lohnstückkosten (also Lohnkosten im Verhältnis zur Produktivität) abhängig ist. Es gibt also einen unbestritten engen Zusammenhang zwischen Löhnen und Preisen. Die Preise steigen nun aber weniger stark als früher und der Autor schließt dennoch daraus, dass ein kräftiger Aufholprozess bei den Reallöhnen stattgefunden haben muss. Irre.
Dabei zeigt die sinkende Inflationsrate gerade das Gegenteil an, nämlich das irgendetwas bei der Entwicklung der Löhne schiefgelaufen sein muss, sonst wäre die Teuerung höher ausgefallen. Der Autor vergisst auch zu erwähnen, dass es innerhalb der Eurozone eine Zielinflationsrate von 1,9 Prozent gibt, an die sich alle, auch Deutschland eigentlich hätten halten sollen. Taten sie aber nicht, was zu den Verwerfungen, also Überschüsse einerseits und Defizite andererseits sowie den zahlreichen Rettungspaketen führte.
Wo das Wissen fehlt, wuchert die üble Nachrede
Die goldene Lohnregel, die der Autor oben anspricht (Lohnerhöhung = Zielinflationsrate + Produktivitätssteigerung), hätte er mal auf Einhaltung hin überprüfen sollen. Er hätte festgestellt, dass Deutschland schon sehr lange unter seinen Verhältnissen lebt und zugelassen hat, dass die Leistungsbilanzen innerhalb der Eurozone weit auseinander drifteten. Um diesen Prozess nachhaltig umzukehren, müssten sich die hiesigen Tarifpartner folglich auf außerordentlich hohe Abschlüsse verständigen. Schlussfolgerung: Eine gewaltige Steigerung wäre durchaus zu begründen, ja sogar vernünftig.
Stattdessen hängen Bundesregierung, Mainstream-Ökonomen und weite Teile der Presse weiter an den Überschüssen. Sie vertrauen also darauf, dass sich das Ausland bei uns verschuldet und Defizite anhäuft, während in Berlin der ausgeglichene Haushalt gefeiert wird. Ein Widerspruch, der selten in den Kommentarspalten thematisiert wird.
Dass die Gewerkschaften mit ihrer Haltung und ihren bescheidenen Lohnforderungen die Position der eigenen Mitglieder weiter schwächen, wäre durchaus mal eine Erwähnung wert. Stattdessen wird auf Frank Bsirske von ver.di an anderer Stelle wieder eingedroschen, weil er für den öffentlichen Dienst ein Lohnplus von bis zu 11 Prozent fordert, in der Hoffnung bei 5,5 zu landen. Und da die Sachkenntnis auch hier wieder fehlt, wird mit Schaum vorm Mund gnadenlos diffamiert. Fehlt nur noch ein Foto vom Privathaus und die Durchwahl zum Büro des ver.di Chefs.
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JAN
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.