Der Umgang mit der Coronakrise zeigt etwas sehr deutlich. Bundes- und Landesregierungen sind mit dem regieren überfordert. Sie zögern Entscheidungen heraus, geben lieber Empfehlungen ab und lavieren deshalb tagelang herum. In Niedersachsen hat die zuständige Landesgesundheitsministerin Carola Reimann gestern einen Verbotserlass für Großveranstaltungen herausgegeben. Das ist richtig. Diese Entscheidung kommt angesichts der Kenntnislage aber doch sehr spät. Eine Dokumentation.
Auf einer Pressekonferenz am gestrigen Mittwoch sagte die Ministerin: „Wir haben es mit einem Infektionsgeschehen zu tun, das eine sehr hohe Dynamik hat, und wir haben den Höhepunkt noch nicht erreicht.“ Das ist vollkommen richtig, nur gab es diese Erkenntnis bereits vor einer Woche. Deutschland befindet sich in der „komfortablen“ Lage, die Verbreitung des Virus in anderen Staaten wie beispielsweise Italien nachvollziehen zu können. Es ist daher schleierhaft, warum es so lange braucht, um zu den angemessenen Entscheidungen zu kommen. Reimann sagte dem NDR Fernsehen gestern auch, dass die ersten Empfehlungen des Ministeriums vom Montag eher zu einer Verunsicherung beitrugen. Die Bürger hätten sich klarere Ansagen gewünscht. Auch diese Erkenntnis ist eigentlich erschreckend. Dass Bürger von ihrer Regierung regieren erwarten, kann doch nicht wirklich überraschen.
Die Entwicklung zum Verbotserlass ist im Ablauf dann auch interessant. Zu Beginn der letzten Woche (2. März) spielte die Ministerin die Gefahr noch herunter. Man muss aber auch dazu sagen, dass sie sich wie alle anderen verhielt, die der abwartenden Haltung der Bundesregierung folgten. Jedenfalls ließ sich Reimann mit der Aussage zitieren. „Es handelt sich bei Corona nach allem, was wir wissen, um eine Erkrankung, die in den allermeisten Fällen eher leicht verläuft und die wir gut behandeln können, wenn sie denn überhaupt behandelt werden muss.“ Das war eben leider nur die halbe Wahrheit, die die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Virus und dessen Gefährlichkeit vor allem für ältere Menschen unterschlug. Überschätzt oder ausgeklammert wurde zu diesem Zeitpunkt auch noch die Leistungsfähigkeit eines Gesundheitswesens, das bereits unter Normalbedingungen an seine Grenzen stößt.
Nach dem Wochenende verkündete die Ministerin dann weitere Maßnahmen. Sie delegierte die Verantwortung an die Landkreise. Diese mögen prüfen, ob im Einzelfall Veranstaltungen abgesagt werden müssen. Zitat: „Angesichts der dynamischen Entwicklung in Italien, Frankreich und steigenden Fallzahlen in Deutschland werden wir die Landkreise und kreisfreien Städte anweisen, alle Veranstaltungen auf ihrem Gebiet auf den Prüfstand zu stellen und kritisch zu hinterfragen, ob sie angesichts der derzeitigen Lage stattfinden können.“ Von pauschalen Verboten hielt die Ministerin am Montag noch nichts.
Am Dienstag entschied nun die Region Hannover, Veranstaltungen in geschlossenen Räumen mit mehr als 1000 Menschen abzusagen, einen Tag später meldete sich wiederum die Ministerin zu Wort und verkündete, dass nun auch in ganz Niedersachsen Veranstaltungen mit über 1000 Besuchern abgesagt werden müssen, egal ob diese nun in geschlossenen Räumen oder unter freiem Himmel stattfinden. Reimann sagt, wie oben bereits erwähnt: „Wir haben es mit einem Infektionsgeschehen zu tun, das eine sehr hohe Dynamik hat, und wir haben den Höhepunkt noch nicht erreicht.“ Wie die Dokumentation zeigt, war die sehr hohe Dynamik des Infektionsgeschehens zu jedem Zeitpunkt bekannt.
Leider wurde wertvolle Zeit vergeudet, bis man sich zu den richtigen Entscheidungen endlich durchrang. Zwei Dinge kommen dabei zusammen. Zunächst eine Art Selbstüberschätzung, die sich anfangs in der Behauptung äußerte, dass gerade Deutschland anders als alle anderen und viel besser auf das Coronavirus vorbereitet sei. Hinzugetreten ist jetzt die Angst vor dem Regieren und der Übernahme von Verantwortung. Das mag sicherlich auch an der Furcht vor steigenden Kosten liegen, von denen mal wieder nicht sicher ist, wer sie übernimmt. Es bleibt daher abzuwarten, welche Wirkungen die getroffenen Maßnahmen entfalten werden. Derzeit tritt genau das ein, was zu befürchten war. Die Fallzahlen steigen weiter rapide an. Mehr zum Thema „Kontrollverlust“ können Sie im Beitrag von Jens Berger auf den NachDenkSeiten nachlesen.
Bildnachweis: Screenshot Landespressekonferenz, 11. März 2020
MRZ
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.