Das Problem der Union ist nicht Laschet, sondern Merkel, die ja bis zum Ende der regulären Amtszeit regiert. Normalerweise war es bislang immer so, einen scheidenden Regierungschef noch während der Wahlperiode, meist zur Mitte abzuziehen und durch den gewünschten Nachfolger zu ersetzen, damit der noch Punkte machen kann. Jetzt ist es ja so, als könne ausgerechnet Olaf Scholz den Amtsbonus von Merkel ausspielen. Eine clevere Strategie übrigens, die von der Union viel zu spät durchschaut wurde.
Die Frage ist natürlich, ob die SPD einen Kanzlertausch in dieser Wahlperiode mitgemacht hätte. Im Raum stand es jedenfalls nie. Gegeben hat es das auf Bundesebene allerdings schon, und zwar 1963, als Ludwig Ehrhard zwei Jahre vor der Bundestagswahl das Amt von Konrad Adenauer übernahm. Er gewann schließlich auch die Wahl 1965. Allerdings hielt seine Regierung nur bis 1966. Der Koalitionspartner FDP zog im Streit um den Bundeshaushalt die eigenen Minister aus der Regierung zurück. Kurt Georg Kiesinger setzte sich in der Unions-Fraktion als Kanzlerkandidat durch, konnte die FDP aber nicht zu einer Neuauflage der Koalition bewegen.
Es entstand die erste Große Koalition mit der SPD, die diese Regierungsbeteiligung für sich strategisch nutzen konnte, um nach der Bundestagswahl 1969 eine sozialliberale Koalition unter Brandt zu schmieden. Die wurde wiederum bei der ersten vorgezogenen Neuwahl 1972 eindrucksvoll bestätigt. Als Brandt 1974 zurücktrat, konnte sein Nachfolger Helmut Schmidt wiederum wertvolle Amtsjahre sammeln und so die Bundestagswahl 1976 trotz Verlusten für SPD und FDP gegen Herausforderer Helmut Kohl gewinnen. Schmidt gewann dann auch noch mal gegen Franz Josef Strauß 1980, wurde dann aber durch ein konstruktives Misstrauensvotum 1982 des Amtes enthoben.
Der neue Bundeskanzler Helmut Kohl sorgte für rasche Neuwahlen und gewann als Amtsinhaber 1983 haushoch. Es ist also wichtig, so etwas wie einen Amtsbonus zu haben. Die Bundestagswahl 2021 ist nun komplett anders. Erstmals stellt sich kein amtierender Bundeskanzler zur Wahl. So hat es die SPD jedenfalls immer betont, wenn es darum ging die faktisch nichtvorhandenen Chancen am Leben zu halten. Laut Umfragen war es lange Zeit eine törichte Annahme, dass die SPD jemals wieder einen Kanzler wird stellen können. Es wurde sogar darüber diskutiert, ob die SPD angesichts ihres erkennbaren Bedeutungsverlustes überhaupt noch einen Kandidaten aufstellen sollte.
Nun ist die Strategie erkennbar. Olaf Scholz vereinnahmt den Amtsbonus entgegen seiner Aussage von der Wahl ohne Amtsinhaber sehr geschickt. Das belegt auch der gar nicht einmal so schlechte Wahlwerbespot, in dem Scholz das bisher Erreichte in der Großen Koalition positiv herausstellt und die Erfolge für sich reklamiert, so als wäre nicht Merkel, sondern er Regierungschef gewesen. Der Rückblick zeigt die Unterzeichnung des Koalitionsvertrages 2017, den es nur gab, weil andere kniffen. Scholz wirkt zufrieden und stolz. „Wir haben vieles erreicht.“ Dann wechselt der Blick zum Zuschauer. Er sagt, dass es nun darum gehe, noch mehr zu schaffen. Er nimmt die Wähler mit.
Das ist ein Unterschied zu den bisherigen Wahlkämpfen der SPD als Juniorpartner aus der Großen Koalition heraus. Da beklagte man sich ständig darüber, wie sehr die Amtsinhaberin Merkel Beschlüsse feierte, die die Sozialdemokraten nach langem Kampf ihr abtrotzen mussten, wie den Mindestlohn zum Beispiel, den sie sich letztlich als Erfolg auf die Fahnen schrieb. Prägend war auch, dass die SPD ständig in der Defensive war und erklärte, dass mit der Union leider nicht mehr umzusetzen sei. Das ist nun anders, weil Scholz der fiktive Amtsinhaber ist. Diese Strategie ließ er zwischenzeitlich auch während der Pandemiebekämpfung einmal durchblicken, als er versprach, persönlich dafür zu sorgen, dass es Millionen Impfdosen in der Woche gebe.
Das wird vermutlich unterm Strich reichen, um die Wahl zu gewinnen. Die Union hat dagegen viel zu spät erkannt, dass sie den so enorm wichtigen Amtsbonus gar nicht in den eigenen Händen hält. Laschet, der sich offenbar als Bewahrer inszenieren wollte, um das Merkel-Erbe einfach so zu übernehmen, ist zu einer reinen Karikatur geworden. Einer, der dann eben auch gern standhaft im Wind der Veränderung ausharrt, bis sich keiner mehr über ihn lustig macht. Markus Söder als Kanzlerkandidat hätte an diesem Niedergang der Union übrigens nichts geändert. Ihm wäre die gleiche Rolle geblieben, die er nur rhetorisch etwas besser hätte ausfüllen können. Er ist aber nur ein überschätzter Schauspieler, ein Selbstdarsteller, der selbst dann die Nerven verliert, wenn so einer wie Scholz nur mal schlumpfig grinst.
Bildnachweis: SPD-Kanzlerfilm zur Bundestagswahl 2021
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Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.