Ohne Schulden läuft auch nichts in einer Volkswirtschaft. Gegen diese simple ökonomische Notwendigkeit kämpft die deutsche Öffentlichkeit mit seinen Voodoo-Ökonomen seit Jahren erfolgreich an. Schulden sind schlecht und Sparsamkeit eine Tugend. Dass das eine nie ohne das andere funktionieren kann, lässt die verbohrte Ideologie nicht zu. Darum soll es unter anderem im dritten Teil des Jahresrückblicks gehen, an dessen Ende auch das politische Weiter so in Form der sich abzeichnenden GroKo steht.
Juli 2013
Die wahlkämpfenden Parteien sind sich einig, die Zukunft dürfe nicht um den Preis höherer Schulden erkauft werden. Doch wie sollen kaputte Straßen und Schulen wieder instand gesetzt werden? Mit Geld natürlich, das einerseits der Staat und andererseits die Privatwirtschaft zur Verfügung stellen soll. Das Zauberwort heißt immer noch ÖPP. Union und SPD sind beide an ihre Schuldenbremse gebunden, die sie am Ende der letzten großen Koalition 2009 mit Zweidrittelmehrheit ins Grundgesetz haben schreiben lassen. Im aktuellen Koalitionsvertrag heißt es daher zu den Öffentlich-Privaten Partnerschaften:
Öffentlich-Private Partnerschaften
Die Fortentwicklung von Öffentlich-Privaten-Partnerschaften (ÖPP) braucht einen breiten gesellschaftlichen Konsens. Wir wollen die Möglichkeiten der Zusammenarbeit von öffentlichen und privaten Geldgebern oder Infrastrukturgesellschaften als zusätzliche Beschaffungsvariante nutzen, wenn dadurch Kosten gespart und Projekte wirtschaftlicher umgesetzt werden können. Dies muss ebenso wie bei Betriebsvergaben in jedem Einzelfall transparent und unabhängig nachgewiesen werden. Wir gestalten ÖPP mittelstandsfreundlicher aus. Die Methodik der Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen werden wir evaluieren und standardisieren.
Dieser Passus beschreibt etwas Unmögliches. Zum einen können ÖPP-Modelle niemals wirtschaftlicher sein, wie die Rechnungshöfe wiederholt bestätigt haben, da nur die öffentliche Hand den zinsgünstigsten Kredit am Markt aufnehmen kann, während der private Geldgeber neben den höheren Kosten für einen Kredit auch eine Rendite erwirtschaften muss. Zum zweiten ist die geforderte Transparenz bei geheimgehaltenen Vertragswerken, die zudem mehrere tausend Seiten umfassen können, defacto ausgeschlossen. Dennoch braucht es das Konzept der Öffentlich-Rechtlichen Partnerschaft, um die absurde Schuldenbremse weiter rechtfertigen zu können und das Problem der teuren Rechnung in die Zukunft zu verlagern.
Wir brauchen höhere Steuern und höhere Schulden, um der Jugend, die ihrer Gegenwart bereits beraubt wurde, nicht auch noch die Zukunft zu nehmen, schrieb ich am 4. Juli. So eine Forderung ist unpopulär und wird mitunter als widersinnig angesehen, da alles und jeder in dieser Gesellschaft wie in der Politik nach ausgeglichenen Haushalten strebt. Eine schwarze Null ist das Pfund, mit dem jede Bundesregierung für sich wirbt. Doch haben auch ausgeglichene Haushalte und das permanente Suchen nach einer Begrenzung staatlicher Ausgaben ihren Preis, den jemand bezahlen muss. Das wird immer verschwiegen, wenn Politiker, die über den Staatshaushalt bestimmen, rein betriebswirtschaftlich denken.
Die schwarze Null in Deutschland, wenn sie denn kommt, ist teuer erkauft. Was in der Bilanz nach Stabilität aussieht, bröckelt in der realen Welt als Putz sprichwörtlich von den Wänden. Bund, Länder und Kommunen schieben einen riesigen Investitionsbedarf bei Straßen, Schulen und sozialen Einrichtungen vor sich her. So hübsch die Zahlen auch sein mögen, sie können nicht über die maroden Zustände der öffentlichen Infrastruktur hinwegtäuschen. Auf die ist die Jugend von heute wie auch in der Zukunft aber angewiesen.
Statt dieser einfachen Logik zu folgen und den Kurs der Kanzlerin für gescheitert zu erklären, schlich man lieber auf leisen Sohlen durchs Sommerloch oder beschimpfte die anderen Europäer, die nur das segensreiche deutsche Modell zu übernehmen bräuchten, um erfolgreich aus der Krise zu kommen.
Wie Lettland zum Beispiel, dessen Beitritt heute zur Währungsunion von den neoliberalen Pfeiffen bereits im Juli 2013 freudig erwartet wurde. Das Land habe alles richtig gemacht und Haushaltsdisziplin mit Reformen kombiniert. Allerdings musste Lettland mit Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2008 den stärksten Wirtschaftseinbruch aller EU-Staaten hinnehmen (-4,6 Prozent und 18 Prozent im Jahr 2009). Die Arbeitslosenquote stieg auf 21 Prozent. Es folgte ein radikales Kürzungsprogramm. Rund 30 Prozent der Beschäftigten im öffentlichen Dienst wurden entlassen und dem Rest das Gehalt um 40 Prozent gekürzt.
340.000 Letten wanderten daraufhin aus. Das sind etwa 14 Prozent der Gesamtbevölkerung, die der baltische Staat seit dem Jahr 2000 verlor. Die Arbeitslosenrate sank also, weil die Menschen fluchtartig das Land verließen. Wären diese Menschen noch da, es gäbe nichts zu bejubeln für die neoliberalen Pfeifen aus den Medien und dem Schloss Bellevue. Lettland gehört zwar zu den Staaten der EU, in denen die Wirtschaft am rasantesten wächst. Allerdings nimmt auch die Armut im Vergleich am schnellsten zu. Weit über 20 Prozent der lettischen Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze oder müssen erhebliche materielle Einschränkungen in Kauf nehmen.
August 2013
Im August war Urlaubszeit angesagt, doch im Mainzer Stellwerk ging gar nichts mehr. Ein inzwischen abgewählter Wichtigtuer meldete sich zu Wort und forderte die gesunden Kollegen auf, ihren Urlaub sofort abzubrechen, um im Stellwerk für eine freie Fahrt der deutschen Wirtschaft zu sorgen. Die heiße Wahlkampfphase wurde eingeläutet und mit allerhand Absurditäten, wiederum durch die Demoskopen hervorgerufen, aufgeblasen. Eine Prognose über die Wahlbeteiligung wagte keiner, obwohl der Trend zur Wahlenthaltung offenkundig ist.
Im Sommerinterview der ARD gab es endlich mal zwei richtig gute Fragen, die aber nicht die Herren Moderatoren Deppendorf und Becker stellten, sondern ihr Gesprächspartner Gregor Gysi. Insgesamt waren den Deutschen Burgerrechte wichtiger als Bürgerrechte, wie die Aufregung um den Veggie-Day einerseits und das Desinteresse am NSA-Skandal andererseits eindrucksvoll belegt. Die Meisterin der Hirntäuschung, Angela Merkel, lässt ihre Angreifer dabei gekonnt ins Leere laufen. Links andenken und rechts vorbeiregieren, das sei die Strategie der Kanzlerin, meinte etwa Volker Pispers in seiner Dienstagsglosse auf WDR 2, die es inzwischen nicht mehr gibt. Und die SPD, sie habe versucht, den Fußspuren Brandts nachzulaufen, um darin verstecken zu spielen.
Die Frage Krieg oder Frieden in Syrien beantwortete die SPD wie auch die Bundesregierung mit einem klaren Jein. Getrieben von den Medien, die einen Militärschlag regelrecht herbeisehnten, durfte es ja keine Solidaritätsbekundung mit dem Kurs der Linken im Wahlkampf geben, die den Spuren Brandts konsequent folgend, ein militärisches Eingreifen klar ablehnten. Eine verlogene Haltung sei anscheinend besser zu ertragen gewesen als die wage Aussicht auf ein Bündnis, das auf Angela Merkel als Kanzlerin verzichten könnte.
Den Deutschen dürfe man schließlich die Zufriedenheit durch so etwas wie die Realität nicht wegnehmen. Die Jugend saufe offenbar so viel, dass die Alten vom Flaschenpfand noch leben können. Das sei ein echter sozialer Ausgleich, findet Christoph Sieber in Neues aus der Anstalt. Die Beschönigungen der wirtschaftlichen Lage werden rund einen Monat vor der Wahl noch einmal in geballter Form aus allen denkbaren Richtungen abgefeuert. Deutschland geht es gut, lautet die Botschaft, obwohl es auch andere Stimmen gab, die weitgehend ungehört blieben.
Deutschland unterliegt einer gefährlichen Illusion, hatte der Chef des Berliner Forschungsinstitut DIW, Marcel Fratzscher, Anfang August gesagt. In einer langfristigeren Perspektive hält die These, dass es uns wirtschaftlich so gut geht, der Wirklichkeit nicht stand, meint der Ökonom. Mit Fakten untermauerte er seine Behauptung, die weitestgehend ungehört blieb:
70 Prozent der Arbeitnehmer haben heute niedrigere Reallöhne als noch vor zehn Jahren. Auch die Produktivität, die Deutschland gern von anderen Ländern einfordert, habe sich seit 1999 verschlechtert, und die Investitionsquote sei in diesen Jahren von über 20 Prozent auf 17 Prozent gesunken.
September 2013
Im September bestimmte die Halskette alle Diskussionen, nicht aber das blanke Entsetzen, das ein TV-Duell hätte auslösen müssen. Darin sah es Merkel als ihre Pflicht an, sich um die inneren Angelegenheiten Griechenlands zu kümmern, gleichwohl bezeichnete sie das Ergebnis dieses Kümmerns, nämlich eine Rezession mit über 50, jetzt schon über 60 Prozent, Jugendarbeitslosigkeit als ganz normalen Zyklus. Sie fabulierte von zarten Pflänzchen des Wachstums, wo die Journalisten im Studio eine zertrampelte Mondlandschaft hätten erkennen und ansprechen müssen.
Die SPD, die bisher als verlässliche Stütze dieser Merkelschen Zerstörungspolitik in Europa galt und brav alles mitbeschloss, sah sich nun einem Liebesentzug der Kanzlerin ausgesetzt. Total unzuverlässig sollen die Sozialdemokraten sein, ließ Merkel in einem Interview verlauten. Um ihre Treue zu Merkel zu beweisen, posaunten die Genossen fortan immer lauter hinaus, dass sie all die schrecklichen wie sinnlosen Rettungspakete der Kanzlerin doch mitgetragen hätten, um sich noch vor der staatspolitischen Verantwortung ihrer Gunst zu versichern.
Diese naive Hoffnung wurde bitter enttäuscht und die führenden Genossen kochten vor Wut, weil sie nicht so behandelt werden wollten, wie sie es mit der Linkspartei tun. Schließlich haben die Spezialdemokraten alles unternommen, um dem Establishment, den Lobbyisten und den Bossen zu gefallen. Sie haben alles gemacht, was der neoliberale Mainstream wollte und damit die eigene Wählerschaft vergrault. Zum Schluss haben sie sogar wie gewünscht den Steinbrück nominiert und eine beispiellose Demontage erlebt. Es ist klar, dass der Liebesentzug der Kanzlerin da besonders schmerzt. Die SPD hat ja sonst niemanden mehr.
Verlässliche Außenpolitik, das sei aber der Markenkern aller Parteien rechts von der Linken. Beim G 20 Treffen in Russland und der nachfolgenden Konferenz der EU-Außenminister wurde allerdings ein gescheitertes taktisches Spielchen offenbar, bei dem nicht nur die Kanzlerin, sondern auch Teile der Opposition ziemlich dümmlich und international isoliert aus der Wäsche guckten. Grund war wieder der Wahlkampf von Merkel und ihre Strategie, sich möglichst nicht auf eine Position festnageln zu lassen, die den Partnern allmählich auf den Geist zu gehen zu schien.
Am Tag der Wahl war schließlich klar, was schon galt, als Steinbrück die Spitzenkandidatur für die SPD übernahm. Die Rückkehr der Großen Koalition mit ihren alten Zöpfen. Nicht regieren, sondern mitregieren, dass war von Anfang an das erklärte Ziel der gelernten Karrieristen in der SPD. Bis zuletzt fabulierten sie über einen rot-grünen Wahlsieg, um dann gleich nach Bekanntgabe der ersten Prognose wohl sortiert und ohne sonderlich überrascht zu wirken, Frau Merkel zum Spielen eines Balles aufzufordern.
Alle Parteien betonten, wie sehr es ihnen doch jetzt um Inhalte gehe. Wie ein Schutzschild trugen sie den Begriff vor sich her. Dabei ging es bei dem Geplapper wohl mehr um eine Sprachregelung zwischen den Parteien, die miteinander koalieren müssen, weil sie eine Mehrheit von Inhalten und damit links von und ohne Angela Merkel an der Spitze kategorisch ausgeschlossen hatten.
– Ende Teil 3 –
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JAN