Jahresrückblick Teil 4

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Das letzte Quartal 2013 dürfte allen noch gut in Erinnerung sein, war es doch geprägt von der Bildung einer weiteren Großen Koalition des “Weiter so” in diesem Land. Was es inoffiziell schon seit der Durchsetzung der Agenda-Politik ab dem Jahr 2002 im Vermittlungsausschuss gab, wurde nun auch formal ein weiteres Mal per Koalitionsvertrag besiegelt. Dass die FDP endlich aus dem Bundestag flog, ist zwar erfreulich, ändert aber nichts an der neoliberalen Grundausrichtung der Politik, um die es im vierten und letzten Teil des Jahresrückblicks auch gehen soll.

Oktober 2013

Der Deutsche hat sich im neuen Biedermeier eingerichtet und will von Krise, Altersarmut, zerbröselndem Gesundheits- und Pflegesystem sowie kaputten Straßen und der vermurksten Energiewende nichts wissen. Die Deutschen sind wild entschlossen, Angela Merkel gut zu finden. Hätte die Kanzlerin den fleischlosen Tag vorgeschlagen, alle hätten ihr zu Füßen gelegen und sofort Rezepte in allen sozialen Netzwerken gepostet anstatt zu protestieren. Fernsehsendungen wie die lange Kochnacht mit Lanz und Lafer hätte es gegeben wie auch eine vegane Sonderausgabe der Bildzeitung. Der Deutsche mag seine “Queen Mum” lieber als die Demokratie. Deshalb hat er auch so gewählt. So lautet das nüchterne Analyse der Kabarettisten in der letzten Ausgabe von Neues aus der Anstalt.

Die Fassade bröckelt dennoch weiter. Die Arbeitslosigkeit steigt, die Herbstbelebung fällt aus und der Fachkräftemangel ist offenbar doch nicht so dramatisch, wenn Siemens und andere Unternehmen aus Wachstumsbranchen dem Arbeitsmarkt mal wieder eigene Mitarbeiter im großen Stil zur Verfügung stellen können. Nur in der Bundesregierung gilt das Versteinerungsprinzip, das alle unfähigen Ministerinnen und Minister auf ihren Posten belässt, bis andere Versager und Wahlverlierer, die zunächst unerkannt bleiben wollen, die Ämter freudestrahlend übernehmen. Die gewählten Abgeordneten bleiben dabei kastrierte Wackeldackel, die im Parlament herumhocken und an der kurzen Leine ihres Listenplatzes gehalten werden, sagt Pispers.

November 2013

Die SPD will in die Koalition. Doch keiner weiß so recht, worüber die Sozialdemokraten mit der Union eigentlich verhandeln. Die SPD Basis sollte sich dennoch nicht so anstellen und auf keinen Fall erwarten, dass Angela Merkel einen Koalitionsvertrag unterschreiben würde, der die Handschrift der SPD trage. Die SPD könne es sich nicht leisten, alles oder nichts zu sagen, so Parteichef Gabriel. Das gelte wenn überhaupt nur für die Pöstchen, die es nur auf Augenhöhe geben dürfe. Die SPD müsse also nach dem Motto verfahren, das Pelzig treffend so formulierte: Die Kanzlerin macht alles falsch, aber wir unterstützen sie dabei – aus Sorge um Deutschland.

Die Sorge um Deutschland ist berechtigt, aber aus einem anderen Grund. Und zwar dem Irrglauben, der die Wirtschaftspolitik weiter bestimmt. Statt über die Folgen der düsteren Aussichten innerhalb der Eurozone zu beraten und einen Masterplan zu entwickeln, reden 75 Leute am Verhandlungstisch lieber über die Förderung von Internet-Geschäftsideen. Die Kritik des Auslands an den enormen deutschen Überschüssen in der Leistungsbilanz ist kein Thema. Es fehlt der Sachverstand, um die Tragweite einer Fehlentwicklung zu begreifen. Die Kirche mit ihrem Gott ist nichts gegen die absurde Gläubigkeit der Deutschen an die herausragende Qualität ihrer Waren auf dem Weltmarkt, bei denen der Preis angeblich keinerlei Rolle spielen soll.

Als Antwort auf die berechtigte Kritik von außen, bekommt der Michel, der ohnehin nicht sonderlich helle zu sein scheint, weil er es offenbar liebt, den eigenen Gürtel immer enger schnallen zu dürfen, dummdreiste Deutschtümelei serviert. Das relative Konstrukt der Wettbewerbsfähigkeit sowie der weltweite Handel werden dabei kurzerhand in ein Schlachtfeld umgedeutet, auf dem Deutschland seine gute Wettbewerbsposition mit aller Macht verteidigen müsse. Diese ist bei näherer Betrachtung aber nicht auf fairen Wege, sondern unter dem dauernden Verstoß gegen Regeln in der Währungsunion zustande gekommen.

Pelzigs Analyse über die Methoden der Meinungsmache war deshalb genial. Allein schon der Satz, dass Ökonomen wie Theologen sind, die nicht wissen, dass sie alles nur glauben, gehört in ein Lehrbuch über diese Zeit. Früher war die Wissenschaft frei, heute ist sie frei verkäuflich und das nutzt die wachsende PR-Industrie natürlich aus, um das starke Gegenlicht zu erzeugen, dessen greller Schein das Licht der Wahrheit locker überstrahlt. Und das Volk sitzt in seinem Wohnzimmer, der möblierten Uckermark, und lehnt die Wahrheit ab. Die Zinsentscheidung der EZB und die Warnung vor der Deflation, die nur mit dem Scheitern der bisherigen Rettungspolitik zu erklären ist, verstehen da die wenigsten.

“Für ausländische Beobachter mutet es kurios an, mit welcher Detailversessenheit die deutschen Parteien ihre Koalitionsverträge aushandeln, als seien diese notariell beglaubigte Rechtsdokumente und nicht letztlich unverbindliche politische Absichtserklärungen. So blieb auch von den hochgemuten Vereinbarungen der schwarz-gelben Vorgängerregierung im Alltag nicht viel mehr übrig als ein Haufen Papier” schrieb die Neue Züricher Zeitung und trifft den Nagel auf den Kopf. Denn wer Schuldenbremse und Fiskalpakt für alternativlos hält, ist zur Tatenlosigkeit verdammt, obwohl eine andere Politik unter günstigen Mehrheitsverhältnissen möglich gewesen wäre.

Was im November bleibt, sind mal wieder Wirre Trends in Prozent und Kampagnen hüben wie drüben, die jeweils auf das gleiche Ergebnis abzielen, nämlich die Zustimmung aller zur Großen Koalition, obwohl sie inhaltlich nicht das liefern kann, was sich die Mehrheit der Bürger gerne wünscht. 

Dezember 2013

Seit Dezember, Sie wissen es genau, steht die Koalition der großen Coups. Pünktlich zum Fest und buchstäblich in der letzten Minute präsentierten die Verhandlungspartner Ergebnisse, über die, wie könnte es auch anders sein, im Verlauf der Legislaturperiode noch einmal verhandelt werden müsse. Das Trommelfeuer gegen den in weiter Ferne liegenden Mindestlohn hat schon begonnen, denn Ökonomen ohne Sachverstand fürchten ihn schon jetzt. Derweil verfolgt die Kanzlerin unbeeindruckt vom Koalitionsvertrag und ohne großen Widerstand ihres neuen Koalitionspartners auch weiterhin ihr Ziel einer Troika für alle in Europa. Die Staats- und Regierungschefs sollen sich auf ein deutsches Europa verpflichten und jedes Jahr neoliberale Reformen umsetzen, die von der EU-Kommission streng überwacht werden.

In ihrer ersten Regierungserklärung als neugewählte Kanzlerin offenbarte Angela Merkel noch einmal ihre Uneinsichtigkeit, was volkswirtschaftliche Zusammenhänge anbelangt. Deutsche Interessen zu Lasten anderer haben Vorrang vor der Vernunft und einem friedlichen Europa, das auf den vermeintlichen Musterknaben verzichten müsste, weil er die Eurozone nur dazu missbraucht, sich einen unberechtigten Wettbewerbsvorteil zu erschleichen. Der Artikel Verzerrte Wahrnehmung des verzerrten Wettbewerbs geht auf diesen Punkt noch einmal ein.

Verzerrt war auch die Wahrnehmung bei der überraschenden Haftentlassung von Michail Chodorkowski, der mit dem Firmenjet in die Freiheit flog und in Deutschland eine Zuflucht fand. Im Checkpoint Charly, mehr entrückte Symbolik geht eigentlich nicht, gab er vor der versammelten Weltpresse Auskunft über nichts. Seitdem klar ist, dass der Ex-Milliardär nur seinem Geld in die Schweiz hinterherreisen will, ebbt der Hype um ihn ab. Dabei wäre es gerade jetzt interessant, etwas über die kriminellen Machenschaften des ehemaligen Oligarchen zu erfahren, derentwegen er völlig zu Recht in Russland angeklagt und verurteilt worden war. Jedenfalls fand der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte keinerlei Beweise für eine politische Motivation im Fall Chodorkowski.

Für die deutschen Medien war unterdessen klar. Ein Kreml-Kritiker ist etwas anderes als ein Whistleblower. Edward Snowden sitzt nach wie vor in Russland fest, einem Land, das nach deutscher Lesart nicht viel von Rechtsstaatlichkeit hält. Dennoch sind die Genschers rar, die bereit wären, ihm ein Visum und einen Firmenjet zur Verfügung zu stellen, um ihn für ein wesentlich gehaltvolleres Gespräch nach Deutschland zu holen.

Das und die alberne Konsumpropaganda an Weihnachten war es auch schon für dieses Jahr. Damit endet der Jahresrückblick 2013 in vier Teilen. Eine abgeschlossene Mission sieht freilich anders aus. Denn die Lage ist weiterhin trostlos. Aber rückblickend kann ich mit Priols Worten sagen. “Non, je ne regret rien.”

Mission Accomblished

In diesem Sinne, auf ein Neues.

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Jahresrückblick Teil 3

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Ohne Schulden läuft auch nichts in einer Volkswirtschaft. Gegen diese simple ökonomische Notwendigkeit kämpft die deutsche Öffentlichkeit mit seinen Voodoo-Ökonomen seit Jahren erfolgreich an. Schulden sind schlecht und Sparsamkeit eine Tugend. Dass das eine nie ohne das andere funktionieren kann, lässt die verbohrte Ideologie nicht zu. Darum soll es unter anderem im dritten Teil des Jahresrückblicks gehen, an dessen Ende auch das politische “Weiter so” in Form der sich abzeichnenden GroKo steht.

Juli 2013

Die wahlkämpfenden Parteien sind sich einig, die Zukunft dürfe nicht um den Preis höherer Schulden erkauft werden. Doch wie sollen kaputte Straßen und Schulen wieder instand gesetzt werden? Mit Geld natürlich, das einerseits der Staat und andererseits die Privatwirtschaft zur Verfügung stellen soll. Das Zauberwort heißt immer noch ÖPP. Union und SPD sind beide an ihre Schuldenbremse gebunden, die sie am Ende der letzten großen Koalition 2009 mit Zweidrittelmehrheit ins Grundgesetz haben schreiben lassen. Im aktuellen Koalitionsvertrag heißt es daher zu den Öffentlich-Privaten Partnerschaften:

Öffentlich-Private Partnerschaften

Die Fortentwicklung von Öffentlich-Privaten-Partnerschaften (ÖPP) braucht einen breiten gesellschaftlichen Konsens. Wir wollen die Möglichkeiten der Zusammenarbeit von öffentlichen und privaten Geldgebern oder Infrastrukturgesellschaften als zusätzliche Beschaffungsvariante nutzen, wenn dadurch Kosten gespart und Projekte wirtschaftlicher umgesetzt werden können. Dies muss ebenso wie bei Betriebsvergaben in jedem Einzelfall transparent und unabhängig nachgewiesen werden. Wir gestalten ÖPP mittelstandsfreundlicher aus. Die Methodik der Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen werden wir evaluieren und standardisieren.

Dieser Passus beschreibt etwas Unmögliches. Zum einen können ÖPP-Modelle niemals wirtschaftlicher sein, wie die Rechnungshöfe wiederholt bestätigt haben, da nur die öffentliche Hand den zinsgünstigsten Kredit am Markt aufnehmen kann, während der private Geldgeber neben den höheren Kosten für einen Kredit auch eine Rendite erwirtschaften muss. Zum zweiten ist die geforderte Transparenz bei geheimgehaltenen Vertragswerken, die zudem mehrere tausend Seiten umfassen können, defacto ausgeschlossen. Dennoch braucht es das Konzept der Öffentlich-Rechtlichen Partnerschaft, um die absurde Schuldenbremse weiter rechtfertigen zu können und das Problem der teuren Rechnung in die Zukunft zu verlagern.

Wir brauchen höhere Steuern und höhere Schulden, um der Jugend, die ihrer Gegenwart bereits beraubt wurde, nicht auch noch die Zukunft zu nehmen, schrieb ich am 4. Juli. So eine Forderung ist unpopulär und wird mitunter als widersinnig angesehen, da alles und jeder in dieser Gesellschaft wie in der Politik nach ausgeglichenen Haushalten strebt. Eine schwarze Null ist das Pfund, mit dem jede Bundesregierung für sich wirbt. Doch haben auch ausgeglichene Haushalte und das permanente Suchen nach einer Begrenzung staatlicher Ausgaben ihren Preis, den jemand bezahlen muss. Das wird immer verschwiegen, wenn Politiker, die über den Staatshaushalt bestimmen, rein betriebswirtschaftlich denken.

Die schwarze Null in Deutschland, wenn sie denn kommt, ist teuer erkauft. Was in der Bilanz nach Stabilität aussieht, bröckelt in der realen Welt als Putz sprichwörtlich von den Wänden. Bund, Länder und Kommunen schieben einen riesigen Investitionsbedarf bei Straßen, Schulen und sozialen Einrichtungen vor sich her. So hübsch die Zahlen auch sein mögen, sie können nicht über die maroden Zustände der öffentlichen Infrastruktur hinwegtäuschen. Auf die ist die Jugend von heute wie auch in der Zukunft aber angewiesen.

Statt dieser einfachen Logik zu folgen und den Kurs der Kanzlerin für gescheitert zu erklären, schlich man lieber auf leisen Sohlen durchs Sommerloch oder beschimpfte die anderen Europäer, die nur das segensreiche deutsche Modell zu übernehmen bräuchten, um erfolgreich aus der Krise zu kommen.

Wie Lettland zum Beispiel, dessen Beitritt heute zur Währungsunion von den neoliberalen Pfeiffen bereits im Juli 2013 freudig erwartet wurde. Das Land habe alles richtig gemacht und Haushaltsdisziplin mit Reformen kombiniert. Allerdings musste Lettland mit Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2008 den stärksten Wirtschaftseinbruch aller EU-Staaten hinnehmen (-4,6 Prozent und –18 Prozent im Jahr 2009). Die Arbeitslosenquote stieg auf 21 Prozent. Es folgte ein radikales Kürzungsprogramm. Rund 30 Prozent der Beschäftigten im öffentlichen Dienst wurden entlassen und dem Rest das Gehalt um 40 Prozent gekürzt.

340.000 Letten wanderten daraufhin aus. Das sind etwa 14 Prozent der Gesamtbevölkerung, die der baltische Staat seit dem Jahr 2000 verlor. Die Arbeitslosenrate sank also, weil die Menschen fluchtartig das Land verließen. Wären diese Menschen noch da, es gäbe nichts zu bejubeln für die neoliberalen Pfeifen aus den Medien und dem Schloss Bellevue. Lettland gehört zwar zu den Staaten der EU, in denen die Wirtschaft am rasantesten wächst. Allerdings nimmt auch die Armut im Vergleich am schnellsten zu. Weit über 20 Prozent der lettischen Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze oder müssen erhebliche materielle Einschränkungen in Kauf nehmen.

August 2013

Im August war Urlaubszeit angesagt, doch im Mainzer Stellwerk ging gar nichts mehr. Ein inzwischen abgewählter Wichtigtuer meldete sich zu Wort und forderte die gesunden Kollegen auf, ihren Urlaub sofort abzubrechen, um im Stellwerk für eine freie Fahrt der deutschen Wirtschaft zu sorgen. Die heiße Wahlkampfphase wurde eingeläutet und mit allerhand Absurditäten, wiederum durch die Demoskopen hervorgerufen, aufgeblasen. Eine Prognose über die Wahlbeteiligung wagte keiner, obwohl der Trend zur Wahlenthaltung offenkundig ist.

Im Sommerinterview der ARD gab es endlich mal zwei richtig gute Fragen, die aber nicht die Herren Moderatoren Deppendorf und Becker stellten, sondern ihr Gesprächspartner Gregor Gysi. Insgesamt waren den Deutschen Burgerrechte wichtiger als Bürgerrechte, wie die Aufregung um den Veggie-Day einerseits und das Desinteresse am NSA-Skandal  andererseits eindrucksvoll belegt. Die Meisterin der Hirntäuschung, Angela Merkel, lässt ihre Angreifer dabei gekonnt ins Leere laufen. Links andenken und rechts vorbeiregieren, das sei die Strategie der Kanzlerin, meinte etwa Volker Pispers in seiner Dienstagsglosse auf WDR 2, die es inzwischen nicht mehr gibt. Und die SPD, sie habe versucht, den Fußspuren Brandts nachzulaufen, um darin verstecken zu spielen.

Die Frage Krieg oder Frieden in Syrien beantwortete die SPD wie auch die Bundesregierung mit einem klaren Jein. Getrieben von den Medien, die einen Militärschlag regelrecht herbeisehnten, durfte es ja keine Solidaritätsbekundung mit dem Kurs der Linken im Wahlkampf geben, die den Spuren Brandts konsequent folgend, ein militärisches Eingreifen klar ablehnten. Eine verlogene Haltung sei anscheinend besser zu ertragen gewesen als die wage Aussicht auf ein Bündnis, das auf Angela Merkel als Kanzlerin verzichten könnte.

Den Deutschen dürfe man schließlich die Zufriedenheit durch so etwas wie die Realität nicht wegnehmen. Die Jugend saufe offenbar so viel, dass die Alten vom Flaschenpfand noch leben können. Das sei ein echter sozialer Ausgleich, findet Christoph Sieber in Neues aus der Anstalt. Die Beschönigungen der wirtschaftlichen Lage werden rund einen Monat vor der Wahl noch einmal in geballter Form aus allen denkbaren Richtungen abgefeuert. Deutschland geht es gut, lautet die Botschaft, obwohl es auch andere Stimmen gab, die weitgehend ungehört blieben.

Deutschland unterliegt einer gefährlichen Illusion, hatte der Chef des Berliner Forschungsinstitut DIW, Marcel Fratzscher, Anfang August gesagt. “In einer langfristigeren Perspektive hält die These, dass es uns wirtschaftlich so gut geht, der Wirklichkeit nicht stand”, meint der Ökonom. Mit Fakten untermauerte er seine Behauptung, die weitestgehend ungehört blieb:

70 Prozent der Arbeitnehmer haben heute niedrigere Reallöhne als noch vor zehn Jahren. Auch die Produktivität, die Deutschland gern von anderen Ländern einfordert, habe sich seit 1999 verschlechtert, und die Investitionsquote sei in diesen Jahren von über 20 Prozent auf 17 Prozent gesunken.

September 2013

Im September bestimmte die Halskette alle Diskussionen, nicht aber das blanke Entsetzen, das ein TV-Duell hätte auslösen müssen. Darin sah es Merkel als ihre Pflicht an, sich um die inneren Angelegenheiten Griechenlands zu kümmern, gleichwohl bezeichnete sie das Ergebnis dieses Kümmerns, nämlich eine Rezession mit über 50, jetzt schon über 60 Prozent, Jugendarbeitslosigkeit als ganz normalen Zyklus. Sie fabulierte von zarten Pflänzchen des Wachstums, wo die Journalisten im Studio eine zertrampelte Mondlandschaft hätten erkennen und ansprechen müssen.

Die SPD, die bisher als verlässliche Stütze dieser Merkelschen Zerstörungspolitik in Europa galt und brav alles mitbeschloss, sah sich nun einem Liebesentzug der Kanzlerin ausgesetzt. Total unzuverlässig sollen die Sozialdemokraten sein, ließ Merkel in einem Interview verlauten. Um ihre Treue zu Merkel zu beweisen, posaunten die Genossen fortan immer lauter hinaus, dass sie all die schrecklichen wie sinnlosen Rettungspakete der Kanzlerin doch mitgetragen hätten, um sich noch vor der staatspolitischen Verantwortung ihrer Gunst zu versichern.

Diese naive Hoffnung wurde bitter enttäuscht und die führenden Genossen kochten vor Wut, weil sie nicht so behandelt werden wollten, wie sie es mit der Linkspartei tun. Schließlich haben die Spezialdemokraten alles unternommen, um dem Establishment, den Lobbyisten und den Bossen zu gefallen. Sie haben alles gemacht, was der neoliberale Mainstream wollte und damit die eigene Wählerschaft vergrault. Zum Schluss haben sie sogar wie gewünscht den Steinbrück nominiert und eine beispiellose Demontage erlebt. Es ist klar, dass der Liebesentzug der Kanzlerin da besonders schmerzt. Die SPD hat ja sonst niemanden mehr.

Verlässliche Außenpolitik, das sei aber der Markenkern aller Parteien rechts von der Linken. Beim G 20 Treffen in Russland und der nachfolgenden Konferenz der EU-Außenminister wurde allerdings ein gescheitertes taktisches Spielchen offenbar, bei dem nicht nur die Kanzlerin, sondern auch Teile der Opposition ziemlich dümmlich und international isoliert aus der Wäsche guckten. Grund war wieder der Wahlkampf von Merkel und ihre Strategie, sich möglichst nicht auf eine Position festnageln zu lassen, die den Partnern allmählich auf den Geist zu gehen zu schien.

Am Tag der Wahl war schließlich klar, was schon galt, als Steinbrück die Spitzenkandidatur für die SPD übernahm. Die Rückkehr der Großen Koalition mit ihren alten Zöpfen. Nicht regieren, sondern mitregieren, dass war von Anfang an das erklärte Ziel der gelernten Karrieristen in der SPD. Bis zuletzt fabulierten sie über einen rot-grünen Wahlsieg, um dann gleich nach Bekanntgabe der ersten Prognose wohl sortiert und ohne sonderlich überrascht zu wirken, Frau Merkel zum Spielen eines Balles aufzufordern.

Alle Parteien betonten, wie sehr es ihnen doch jetzt um Inhalte gehe. Wie ein Schutzschild trugen sie den Begriff vor sich her. Dabei ging es bei dem Geplapper wohl mehr um eine Sprachregelung zwischen den Parteien, die miteinander koalieren müssen, weil sie eine Mehrheit von Inhalten und damit links von und ohne Angela Merkel an der Spitze kategorisch ausgeschlossen hatten.

– Ende Teil 3 –

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Jahresrückblick Teil 2

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Ein frohes und gesundes neues Jahr. Wie angekündigt, geht es an dieser Stelle mit dem Jahresrückblick 2013 weiter. Teil 2 steht an und der beschäftigt sich auch mit der absurden Meinungsforschung, die statt Klarheit zu vermitteln vor allem Widersprüchlichkeit liefert. Jörg Schönenborn, das Gesicht der Umfrage-Hybris, musste bei der Niedersachenwahl im Januar zugeben, dass er sich das Ergebnis eigentlich nicht erklären könne. Nach der ersten Prognose meinte er fassungslos: „Ich habe selten eine so kompetenzlose FDP mit einem so guten Ergebnis erlebt.“ Kompetenzlosigkeit ist in diesem Zusammenhang auch die treffende Beschreibung für Demoskopen, die im Jahr 2013 versuchten, die politische Stimmung abzubilden und damit einmal mehr jämmerlich scheiterten.

April 2013

Die meinungsforschende Widersprüchlichkeit setzte sich im April fort. Denn obwohl sich die FDP deutlich unterhalb der Fünf-Prozent-Hürde bewegte, galt sie lange Zeit noch dem schwarz-gelben Lager zugehörig, welches dem rot-grünen Lager gegenübergestellt wurde. Die Linke, die inzwischen den Oppositionsführer stellt, spielte erwartungsgemäß keine Rolle, sondern erst dann, als die Konservativen kurz vor der Bundestagswahl das Schreckgespenst eines rot-rot-grünen Bündnisses mal wieder aus der Mottenkiste holten. Es könne sein, so Merkel warnend, dass es ein böses Erwachen mit Rot-Rot-Grün gebe. Dieses Erwachen gab es tatsächlich, doch es war weder böse, noch ein ernsthaftes Problem für Merkel und die Union, die sich immer auf ihre Sozialdemokraten verlassen konnte.

Die Botschaft, das Merkel Kanzlerin bleiben werde und müsse, triefte vor allem aus Propaganda-Meldungen zur wirtschaftlichen Lage. Deutschland gehe es gut, waren sich viele einig. Im April faselte die FAZ über Vollbeschäftigung und Spiegel Online sah den Aufschwung kommen. Die Medien nahmen die europäische Krise zwar zur Kenntnis, betrachteten sie aber entweder als etwas Außenstehendes, von dem Deutschland gar nicht betroffen sein könne oder aber sie glaubten, die harte Anpassungspolitik hätte zu ersten Erfolgen geführt. Die eigene Selbstgerechtigkeit und Ignoranz volkswirtschaftlichen Zusammenhängen gegenüber, blendeten die Journalisten konsequent aus, wohl als freundschaftliche Dienstleistung für die amtierende Kanzlerin.

Mai 2013

Um das leidige Thema Steuern ging es im Mai. Die erste Schätzung des Jahres stand auf dem Programm und wie zu erwarten, war von Höchstständen und sprudelnden Einnahmen die Rede, auf die sich der Finanzminister freuen dürfe. Verbunden war die Botschaft natürlich mit der Aufforderung, keine neuen Steuern zu erheben und nun endlich richtig zu sparen. Den Lesern dieses Blogs ist unterdessen klar: Wenn es sprudelt, verarmt meistens der Staat. Dass die Steuereinnahmen immer weiter steigen und damit nominale Rekordhöhen erklimmen, ist keine Besonderheit, sondern eine banale mathematische Notwendigkeit. Denn wenn das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wächst, wachsen auch die Steuereinnahmen mit.

Entscheidend ist der Anteil des Steueraufkommens am BIP, das mit der Kennziffer Steuerquote gemessen wird. Nur sie zeigt vergleichend an, ob ein Staat tatsächlich genügend Geld einnimmt, um seine Aufgaben erfüllen zu können. Im Mai errechneten die Steuerschätzer eine Quote von 22,77 Prozent für das Jahr 2013, im November (siehe Grafik) sind es nur noch 22,68 Prozent und für 2014 prognostiziert 22,66 Prozent, obwohl die absolute Zahl der Steuereinnahmen weiterhin steigt. Verglichen mit anderen Staaten bewegt sich Deutschland bei den Einnahmen damit nicht auf Rekordniveau, sondern markiert eher das untere Ende der Fahnenstange.

Steuerschätzung

Quelle: Arbeitskreis Steuerschätzung (via Bundesfinanzministerium)

Das ist auch logisch, wenn man sich die Steuersenkungsorgien in der Vergangenheit in Erinnerung ruft. Der Staat verzichtet eher auf Einnahmen in Milliardenhöhe und akzeptiert weiterhin riesige Finanzlöcher bei den Gebietskörperschaften, die mit noch mehr Einsparungen, so die irrige Auffassung, und trotz eines enormen Investitionsrückstandes geschlossen werden könnten.

Im Wahlkampf spielte das Thema ein wichtige Rolle, den Konservativen und ihrer Verbündeten in den Medien gelang es jedoch, die zaghaften Ansätze eines Umdenkens in der Steuerpolitik als wirtschaftsfeindlichen Griff ins Portemonnaie der Wähler zu brandmarken und ihnen die Botschaft ins Hirn zu pflanzen, dass der Staat im Geld ja schwimmen müsse.

Doch nicht nur das. Im Mai wird auch deutlich, dass die deutsche Wirtschaft selbst in der Krise steckt. Seit dem zweiten Quartal 2012 gibt es kaum noch positive Impulse. Nur mit Rechentricks kann die Rezession (zwei schrumpfende Quartale infolge) verhindert werden. Denn wie das Statistische Bundesamt selbst mitteilt, mussten die Daten des Jahres 2012 nach unten revidiert werden. Am 22. Februar 2013 war in der ausführlichen Betrachtung von Q4/2012 noch von einem Rückgang um 0,6 Prozent die Rede (110,73 Indexpunkte). Nach der Neuberechnung liegt der Indexwert bei 110,61 und das erste Quartal 2013 bei 110,68 Indexpunkten. Weil also das letzte Quartal 2012 noch etwas schlechter ausfiel als ursprünglich berechnet, gibt es zum Start in 2013 keinen Rückgang der Wirtschaftsleistung.

Dieser billige Trick genügte den Medien, um erneut vom Musterschüler zu faseln und mit chauvinistischen Zeigefinger auf die schlechte Performance der anderen Europäer zu zeigen. Brüssel unterstützte die Haltung Berlins und forderte von den Staaten der Eurozone Reformen ein. Nicht so bei Deutschland, hier sprach die EU-Kommission allenfalls Empfehlungen aus, die mit unerträglicher Begleitmusik kommentiert wurden.

Juni 2013

Im Juni wird es langsam “konkret”. Die Union verabschiedet ihr Wahlprogramm, das sich, so Parteimitglied Kurt Lauk, nach der Wahl von selbst erledigen würde. Die Wähler wüssten das seit 50 Jahren, so Lauk im ARD-Bericht aus Berlin. Die Wähler, die gleichzeitig Verbraucher sind, störten sich nicht daran, sondern zeigten sich, so die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK), weiterhin in bester Kauflaune. Sie kaufen der Merkel und ihrer Union einfach alles ab und glauben auch, dass sie selbst viel konsumieren und damit zum Aufschwung beitragen.

Die guten Tarifabschlüsse würden sich im Portemonnaie der Beschäftigten bemerkbar machen, heißt es dabei immer wieder. Was aber bei derlei hübsch aussehender Begründung verschwiegen wird, ist die Tatsache, dass die Tarifbindung seit Jahren immer weiter zurückgeht, also immer weniger Beschäftigte von Tarifabschlüssen überhaupt profitieren. Ein Blick in die Statistik gibt Aufschluss. “Im Jahr 2012 arbeiteten nur noch 58 Prozent der Beschäftigten in Betrieben mit Tarifbindung, im Westen sind es 60, im Osten 48 Prozent. Vor 15 Jahren lag die Tarifbindung in West und Ost jeweils rund 15 Prozentpunkte höher!”

Nach der aktuellsten Lohnstrukturerhebung müssen 22,2 Prozent der Beschäftigten in Deutschland mit einem Niedriglohn auskommen. Damit hat Deutschland hinter den drei baltischen Staaten Lettland, Litauen und Estland sowie den Ländern Rumänien, Polen und Zypern den siebtgrößten Niedriglohnsektor in der EU. Gemessen an dem Rekordwert von 41,79 Millionen Beschäftigten, der im Monat April gemessen und als Ausdruck des Wohlstandes gefeiert wurde, gehören über neun Millionen Menschen in diesem Land diesem Sektor an.

Außenpolitisch ist im Juni klar, dass vor der Bundestagswahl nichts mehr geschehen darf. Europa hat sich nach Muttis Zeitplan zu richten, auch die Zyprer, deren vermeintliche Rettung sich als Untergangsszenario entpuppte. Ein schönes Bild, noch im Mai auf der Geburtstagsfeier der SPD in Leipzig aufgenommen, beschreibt das Jahr 2013 sehr schön.

SPD_150_Neu


Heute feiert die Sozialdemokratie ihren 150. Geburtstag und ein im Mai 2007 geborener Kläger vor dem Bundessozialgericht einen Erfolg, der ohne die SPD nicht denkbar wäre. Dem inzwischen Sechsjährigen steht nämlich ein Jugendbett als Erstausstattung im Rahmen der in Leipzig noch einmal ausdrücklich von allen Seiten gelobten Hartz-IV-Gesetzgebung zu. Allerdings ist noch nicht klar, ob auch die Anschaffungskosten in Höhe von 272 Euro angemessen sind. Denn das muss nun jenes Sozialgericht entscheiden, das dem jungen Kläger zuvor die Bewilligung von Leistungen für ein “Jugendbett” mit Lattenrost auf Grundlage der in Leipzig noch einmal von allen Seiten so gelobten Hartz-IV-Gesetzgebung rechtswidrig versagt hatte.

Beim Festakt im Leipziger Gewandhaus spielen solche in der Sache und Juristerei widersprüchlichen Einzelschicksale freilich keine Rolle. Der 150. Geburtstag der “alten Tante” SPD wurde wie erwartet dafür missbraucht, um ein weiteres Mal die krachend gescheiterte Agenda-Politik als bahnbrechenden Erfolg zu würdigen.

Hier ziehen der Parteivorsitzende Sigmar Gabriel und dessen heimliche Kanzlerkandidatin, die in Leipzig ganz selbstverständlich neben ihm in der ersten Reihe Platz genommen hatte, an einem Strang. Denn was der ganz links im Bild abgeschnittene Altkanzler Schröder begann, setzt Angela Merkel mit Hilfe von lauter Sozialdemokraten um sie herum in Europa und Deutschland auf brutale Weise weiter um. Sie alle wissen, was angemessen ist für Europa, Deutschland und vor dem Sozialgericht klagende Windelträger, die bis zu einer richterlichen Entscheidung längst aus Betten und knappen Regelsätzen hinaus- und in die von der SPD zu verantwortende Armut dauerhaft hineingewachsen sind.

Es braucht offensichtlich drei Jahre und mehrere Gerichte, um festzustellen:

Der Bedarf nach einem neuen Bett sei lediglich wegen des Wachsens des Klägers entstanden.

In diesem von Richtern formulierten einfachen und für jeden verständlichen Satz drückt sich der unbeschreibliche Erfolg der von allen Seiten so gelobten und einzig noch lebenden Agenda-Reform aus. Dafür hat die SPD 150 Jahre gekämpft. Chapeau.


– Ende Teil 2 –

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Jahresrückblick Teil 1

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Ich will Sie nicht mit noch einem Jahresrückblick langweilen, weshalb es wohl gleich mehrere Teile werden. Das Archiv dieses Blogs bietet mit seinen 184 Beiträgen im Jahr 2013 einigen Lesestoff, den Sie in anderen Archiven oder Zusammenfassungen nicht finden werden, auf den es sich aber zurückzublicken lohnt. Für die letzten Stunden des alten Jahres hier zunächst eine Auswahl aus den Monaten Januar bis März.

Januar 2013

Die Öffentlichkeit diskutiert über den Herrenwitz und das unflätige Verhalten von Rainer Brüderle gegenüber einer Stern-Journalistin an der Hotelbar. Ganze Zeitungsseiten wurden mit der Story gefüllt und den Lesern die Frage gestellt, ob die Aufregung berechtigt sei. Abseits davon schwiegen sich die Kollegen über den Auftritt von Angela Merkel beim Weltwirtschaftsforum in Davos aus. Dort formulierte sie unter der Überschrift “Die Besten als Vorbild” ihren Pakt des Schreckens. Die Duktus-Wende vom Kampf gegen die “Staatsschuldenkrise” zum Kampf um Wettbewerbspositionen nahm dort eine ungeahnt konkrete Gestalt an. Die Krise als Chance, bedeutet für Merkel vor allem Kontrolle über die anderen Europäer. Dafür sei Druck notwendig, um Reformprogramme nach bestem deutschen Vorbild, nur viel härter, umsetzen zu können.

Die plötzliche Erkenntnis des IWF, wonach der Sparkurs™ in Europa angesichts der Rekordarbeitslosigkeit gescheitert sei, wischten Europäische Union wie auch die deutsche Öffentlichkeit rasch vom Tisch. Schließlich seien Fortschritte erkennbar, die Kritik von außen damit unfair und allenfalls von Neid denn von Sorge geprägt. Der Januar 2013 war auch der Monat, in dem Urban Priol und Erwin Pelzig in Neues aus der Anstalt den ersten Jahresrückblick präsentierten und mit ihren fiktiven Meldungen gar nicht so weit daneben lagen.

Februar 2013

Im Februar ging es um die Finanzen. Denn auch der “Musterschüler” muss sparen, um das bescheuerte wie abwegige Ziel einer “wachstumsfreundlichen Haushaltskonsolidierung” erreichen zu können. Als Angriffsziel wurde der Gesundheitsfonds ausgemacht, aus dessen Etat eine Menge Geld herauszuholen wäre. Gemeint ist der jährliche Bundeszuschuss in Höhe von 14 Milliarden Euro, der wohl 2014 unter der GroKo  gekürzt werden wird. Denn eine entsprechende Passage im Koalitionsvertrag, die das verhindern sollte, ist gestrichen worden. Sozialpolitik nach Kassenlage, der feuchte Traum von Schäuble dürfte damit Wirklichkeit werden. Die Medien klatschen wahrscheinlich auch Beifall, weil sie schon im Februar nicht begriffen hatten, worin der Unterschied zwischen einer Versicherung mit Beiträgen und dem Bundeshaushalt aus Steuern besteht.

Dabei gehört es seit jeher zum schäbigen Geschäft der Politik, der Sozialversicherung Leistungen, für die die Allgemeinheit eigentlich zuständig ist, erst aufzubürden, um diese dann durch Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt quer zu finanzieren. Wenn die Politik nun wieder Geld für ihren Haushalt braucht, hat sie leichtes Kürzungsspiel, da jeder glaubt, dass die Versicherung dem Staat gehört. Und die Medien spielen unkritisch mit, schmeißen gar zusammen, was nicht zusammen gehört und derjenige, der sich dank Beitragsbemessungsgrenze aus der Solidargemeinschaft verabschieden konnte, freut sich über die vielen unbezahlten Anwälte, die für seine steuerliche Entlastung kämpfen.

März 2013

Hugo Chávez stirbt, die Linke trauert und die “Scheinbürgerlichen” mahnen zu mehr Demokratie in Venezuela. Doch welche Form von Demokratie sie meinen, bleibt unausgesprochen. Marktkonform soll sie sein. Deshalb arbeiten in dem lateinamerikanischen Land mit freundlicher Unterstützung der zum Teil aus Steuermitteln finanzierten Friedrich-Naumann-Stiftung etwa 46 Organisationen aus 17 Staaten zusammen gegen die regierenden Sozialisten. Ziel ist die Durchsetzung marktliberaler Konzepte und die Unterstützung bolivianischer und venezolanischer Sezessionsbewegungen (vgl. NachDenkSeiten). Gebracht hat es wenig, denn die Sozialisten gewinnen auch ohne Chávez Wahlen und können sich sogar auf kommunaler Ebene unter dem neuen Präsidenten Nicolás Maduro zuletzt behaupten.

Derweil gehen in Deutschland die Angriffe auf die Reste des Sozialstaates (Teil 2 hier) weiter. Die neoliberalen Think tanks arbeiten bereits an einer “Agenda 2020”, die mit Sicherheit auch im kommenden Jahr ein großes Thema werden wird. Voodoo-Ökonomen haben in Deutschland längst wieder Konjunktur und finden in den Medien dankbare Abnehmer ihrer kruden Thesen, vor allem in der Lohnpolitik. Für Journalisten scheint die Überlegung nämlich einleuchtend, wonach Nullrunden oder Kürzungen bei Gehältern im öffentlichen Dienst zu einem Sparerfolg führen müssten. Dass Lohnkürzungen das Loch in den öffentlichen Kassen nicht etwa kleiner, sondern größer werden lassen, ist für sie geradezu unvorstellbar. Die Frage aber, wer für den Nachfrageausfall und die damit verbundene Schwächung der Wirtschaftsleistung aufkommen soll, aus der ja jene Steuermittel generiert werden müssen, die in die öffentlichen Kassen fließen, wird gar nicht erst gestellt.

Der Aufschrei der SPD ist überschaubar. Sie stellt sich als Maklerin für die neoliberale Politik weiterhin zur Verfügung und lässt sich deshalb auch vom politischen Gegner feiern. Im beginnenden Wahlkampf loben vor allem Union und FDP die rot-grüne Reformära. Und die Sozialdemokraten selbst halten die Agenda 2010 offenbar für das wichtigste Reformprojekt ihrer 150-jährigen Geschichte. In einer Randnotiz erklärt die WAZ-Gruppe zur gleichen Zeit, ihre Familientradition stärker betonen zu wollen und streicht dafür weitere 200 Stellen.

Der März war auch der Monat der gescheiterten Zypern-Rettung, die der deutsche Finanzminister am liebsten überfallartig am Wochenende regeln wollte, da Bankeinlagen eine sensible Sache seien. Merke: Lüge, Enteignung, Rechtsbruch und Diktat sind vielleicht nicht ganz okay, aber eben zwingend notwendig, um den Schein von Demokratie zu wahren. Was hingegen gar nicht geht, ist die Demokratie selber, so mein Eindruck. Es werden immer wieder Gründe erfunden, um den gescheiterten Kurs der vermeintlichen Eurorettung weiter fortsetzen zu können.

Quelle: Stuttmann Karikaturen

– Ende Teil 1 –

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Keine Nachspielzeit für politische Versager

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Wie bereits kurz nach dem Start der ersten Großen Koalition unter Angela Merkel beginnt auch jetzt wieder eine Diskussion um die Verlängerung der Wahlperiode von derzeit vier auf fünf Jahre. Viele finden den Vorschlag erneut charmant, weil sie denken, dass sich die Politiker, die ja nur von einem Wahlkampf zum nächsten spurten würden, dann endlich wieder auf die Belange der Wähler konzentrieren könnten. Alles Humbug.

Das Hauptargument für eine Verlängerung der Legislaturperiode ist zu schwach. Es stimmt einfach nicht, dass vier Jahre zu kurz seien, um sinnvolle Politik zu betreiben und Gesetze zu verabschieden. Einen 480 Milliarden Euro großen Rettungsschirm für die Banken setzten die Volksvertreter innerhalb von nur einer Woche per Eilgesetz durch. Und das, obwohl deutlich kleinere Beträge für Dinge wie Bildung, Infrastruktur oder Sozialleistungen zu diesem Zeitpunkt äußerst schwer im Haushalt zu finden waren und längere Debatten und Streitereien darum zur Normalität gehörten.

Wenn die gewählten Abgeordneten meinen, ihnen seien die Hände gebunden, weil sie sich erst einarbeiten und dann schon wieder ein Jahr lang Wahlkampf machen müssten, dann ist das doch nicht das Problem des Souveräns. Was ist, wenn sich die Politik entschlösse, zwei Jahre Wahlkampf zu betreiben, diskutieren wir dann über eine Verlängerung der Wahlperiode auf sechs Jahre? In diesem Fall sollte der Souverän mit seiner Stimme nach vier Jahren jenen die Legitimität einfach entziehen, die sich, statt zu regieren, nur um ihre Wiederwahl kümmern.

Eine Verlängerung der Legislaturperiode hat also einen viel simpleren Grund. Die sich selbst erwählenden Minister und Mitarbeiter würden noch ein Jahr länger im Amt verbleiben. Wahlverlierer, wie Steinmeier, Nahles oder Gabriel fordern ja wie selbstverständlich ihre Pöstchen ein. Andere, wie Dirk Niebel verwandeln ihr Ministerium gar in eine Parteizweigstelle. Will man wirklich diese unverschämte Selbstbedienungsmentalität weiter ausbauen und die staatliche Alimentierung von Politversagern unnötig verlängern?

Die ganze Diskussion lenkt eigentlich nur von der Regierungsunfähigkeit der Regierungen ab, die zwar mit dem Anspruch antreten, gestalten zu wollen, in Wahrheit aber damit zufrieden sind, ein Plätzchen am Tisch der Herrschenden ergattert zu haben. Die Diskussion zeigt aber auch, dass die Große Koalition eben nicht groß darin ist, Probleme zu lösen. Vielmehr blockieren sich die Partner gegenseitig und auf Dauer, wie man bereits ein paar Wochen nach der Unterzeichnung des Koalitionsvertrages deutlich erkennen kann. Einig sind sie sich nur, wenn die wirklich Mächtigen in diesem Land in die Bredouille geraten und vom Staat gerettet werden müssen.

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Frohe Weihnachten und machen Sie sich Gedanken

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Ich wünsche allen Lesern ein schönes Weihnachtsfest. Meiden Sie die Weihnachtspredigt des Bundespräsidenten, der doch lieber Pastor hätte bleiben sollen. Er hat einfach nicht das Format für jenes Amt, das er bekleidet, aber nicht ausfüllt. Format hat hingegen Edward Snowden. Ein Mann, der die Verfassung seines Landes ernst genommen und jenen zu Recht Verfassungsbruch vorgeworfen hat, die nun über ihn richten wollen. Auch er zieht Bilanz und sagt:

“The oath of allegiance is not an oath of secrecy,” he said. “That is an oath to the Constitution. That is the oath that I kept that Keith Alexander and James Clapper did not.”

Heißt soviel wie:

“’Der Treueeid ist kein Eid zur Geheimhaltung. Es ist ein Treueeid auf die Verfassung. Diesen Schwur habe ich eingehalten, Keith Alexander und James Clapper nicht.”

Starke und wahre Worte, die sich stellvertretend auch unsere Politiker-Mischpoke hinter ihre Löffel schreiben sollte. Und wir Menschen da draußen sollten die etwas ruhigeren Tage nutzen, um nachzudenken. Vielleicht über diesen Satz Snowdens.

“Because, remember, I didn’t want to change society. I wanted to give society a chance to determine if it should change itself.”

Heißt soviel wie:

“Bedenken Sie, Ich habe nicht die Gesellschaft ändern wollen. Ich wollte der Gesellschaft die Möglichkeit geben, selbst herauszufinden, ob sie sich ändern möchte.”


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SPD muss schlechten Kompromiss jahrelang verteidigen

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Was die Mindestlohnregelung tatsächlich wert ist, wird schon ein paar Tage nach der freudetrunkenen Unterzeichnung des Koalitionsvertrages deutlich. Medien und politische Gegner arbeiten bereits kräftig an der Desavouierung des Punktes, der den Sozialdemokraten angeblich über alles geht (siehe auch hier im Blog). Die Genossen hätten wissen können, was auf sie zukommt und darauf bestehen müssen, den Mindestlohn sofort zu beschließen, anstatt häppchenweise irgendwann gegen Ende der Legislaturperiode. Stattdessen hat sich die SPD auf einen jahrelangen Abwehrkampf eingelassen, den sie mit der Union an ihrer Seite niemals gewinnen kann und damit die Wähler auch nicht beeindrucken wird.

Für Saisonarbeiter, Praktikanten, Ehrenamtliche und Rentner dürfe der Mindestlohn nicht gelten, so CSU-Chef Horst Seehofer wenig überraschend in der Welt am Sonntag. Seehofer wörtlich: “Ich möchte den gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro. Ich werde aber aufpassen, dass er nicht zur Vernichtung von Arbeitsplätzen führt.” Heißt konkret, Seehofer möchte doch keinen Mindestlohn, weil dieser seiner Meinung nach der Lebenswirklichkeit vieler Menschen widerspricht. Diese besteht zum Beispiel darin, dass Rentner ihre aus Seehofers Sicht wohl üppigen Altersbezüge lediglich aufbessern möchten und daher ja gar keinen Mindestlohn bräuchten. Warum aber ein Rentner, der nach Definition eigentlich sein Einkommen ohne Arbeitsleistung erzielen müsste, weil er dafür schließlich auch versichert ist und Ansprüche erworben hat, dennoch arbeiten muss, beantwortet Seehofer nicht.

So normal ist es schon geworden, dass Rentner inzwischen wieder arbeiten gehen. Das müssten die späteren Rentner übrigens auch, wenn der Mindestlohn von 8,50 Euro Wirklichkeit werden würde. Er kommt viel zu spät und ist nach heutigen Maßstäben schon viel zu niedrig bemessen, um der Altersarmut zu entkommen. Ausnahmen wird es nicht geben, kontert Andrea Nahles und spricht von Fluchtfantasien auf Seiten der Union. Sie garantiere, dass ab dem 1. Januar 2017 niemand weniger als 8,50 Euro pro Stunde verdienen werde. Von dieser Garantie ist in etwa so viel zu halten, wie von ihrem Wahlkampfversprechen, mit der Union kein Bündnis eingehen zu wollen. Das alles war vorhersehbar. Der demoskopisch festgestellten Freude über die Große Koalition dürfte recht bald die Ernüchterung folgen. Viele werden sich dann erinnern und sagen, die machen ja an der Stelle weiter, wo sie vor vier Jahren aufgehört hatten, als wir uns die GroKo zum Teufel wünschten.

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HDE vermutet mal wieder viele Last Minute Einkäufe

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Da ich gerade wieder etwas vom HDE-Hauptgeschäftsführer Stefan Genth lese, der zu jedem Weihnachtsgeschäft seine Aussagen vom Vorjahr recycelt, und bittere Realitäten durch das Prinzip Hoffnung ersetzt, gebe ich hier ebenfalls meinen Beitrag vom vergangenen Jahr noch einmal aus. Er hat, bis auf die Angaben zum Wetter, kaum an Aktualität verloren. Aber das ist wurscht. Deutschland ist ja trotz sinkender Reallöhne permanent im Kaufrausch.


Wie albern die Konsumpropaganda zu Weihnachten geworden ist, zeigen die wöchentlichen Wasserstandsmeldungen des Einzelhandelsverbandes (HDE), der seit Beginn der Adventszeit mal wieder von einem traumhaften Weihnachtsgeschäft fabuliert. Leider läuft es seit Jahren schon nicht rund, um nicht zu sagen, BESCHISSEN, was aber eigentlich klar sein müsste, wenn man die Statistik zu Einkommen der Deutschen und den Umsätzen im Einzelhandel ernst nimmt.

Vor einer Woche war es den Herrschaften vom Einzelhandelsverband noch zu kalt und sie baten um die Mithilfe des Winterdienstes, damit die Menschen ungehindert in die Läden strömen können. Diese Woche ist es auf einmal zu mild und verregnet, was die Geschäfte verhagelt. Jetzt hoffen die Händler auf die Last, Last, Last Minute Shopper an Heiligabend und natürlich auf die Einlösung der Gutscheine nach Weihnachten. Blöd nur, dass die Gutscheine schon bezahlt sind. Das Eintauschen gegen Ware führt also nicht zu höheren Einnahmen wie die Propagandamaschinerie suggeriert.

Bei all dem Gejammer dürfen wir aber nicht vergessen, dass die Innenstädte an jedem Wochenende brechend voll sind. Nur ist das eben keine relevante Größe. Was zählt, sind die harten Fakten und die Bilanzen der Unternehmen. Kauflaune hin oder her, der private Konsum wird auch in diesem Jahr allen Unkenrufen zum Trotz eine Bauchlandung hinlegen. Und das miserable Weihnachtsgeschäft wird nicht am Wetter zugrunde gegangen sein, sondern an fehlender Massenkaufkraft, deren Zerstörung Politik und Wirtschaft seit Jahren höchst selbst betreiben.


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Mit dem Firmenjet in die Freiheit

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Es ist schon erstaunlich, was alles außerhalb des Protokolls für einen verurteilten Kriminellen möglich ist. Ein schnelles Visum, ein Privatjet und offenbar eine gesicherte Eskorte vom Flughafen Schönefeld nach nirgendwo. Chodorkowski, der hierzulande von den Medien als politisch Verfolgter betrachtet wird, dem die Menschenrechte aberkannt worden seien, hat deutschen Boden betreten. Gleich nach seiner Entlassung hat ihn ein von Hans-Dietrich Genscher organisierter Privatjet nach Berlin geflogen, angeblich, so vermuteten es die Medien, damit er seine kranke Mutter besuchen könne. Die befindet sich aber gar nicht mehr in Deutschland, sondern in Moskau. Aus der rührseligen Story wird also erst einmal nix.

Wieso denke ich jetzt bloß an Edward Snowden, der ja wirklich ein politisch Verfolgter ist und, so irre das auch klingen mag, ausgerechnet beim Putin Asyl bekommen hat? Nicht in Deutschland. Da ließ das Außenministerium nach Rücksprache mit dem Innenministerium vermelden, dass Snowden kein politisch Verfolgter sei, damit die Voraussetzungen für eine Aufnahme fehlen würden und wenn überhaupt, er nur Asyl beantragen könne, wenn er sich im Land befände.

Hätten wir also den alten Kämpfer für Freiheit, Genscher, fragen sollen? Wohl kaum, denn der deutsche Oberliberale Christian Lindner meinte damals: “Die Gewährung von Asyl wäre das Kündigungsschreiben für die transatlantische Partnerschaft mit den USA.” Und die SPD, im November noch nicht in der Regierung, sondern in Verhandlung mit der Union, lieferte einen typischen Merkelsatz nach dem Muster: “Wir müssen auf europäischer Ebene eine gemeinsame Lösung finden.”

Ein Whistleblower ist eben etwas anderes als ein Kreml-Kritiker. Gregor Gysi hatte in seiner – inzwischen vom Seminar für Allgemeine Rhetorik der Eberhard Karls Universität Tübingen ausgezeichneten – Rede vor dem Deutschen Bundestag am 18. November wohl Recht, als er Christa Wolf zitierte:

“Und dass wir lieber den bestrafen, der die Tat benennt, als den, der sie begeht.”

Gregor Gysi, Deutscher Bundestag, 18. November 2013

Letzteren, einen verurteilten Straftäter, empfangen wir sogleich mit offenen Armen, weil er besser zu unserer Vorstellung einer marktkonformen Demokratie passt und zu unseren Interessen an Rohstoffen, die uns nicht gehören, die wir aber gerne hätten. Das kann der andere nicht bieten. Der hat nur brisante Informationen, unangenehme Informationen, mit denen er sich auch in Russland strafbar machen könnte, wenn er sie denn weiter preisgebe. Aber da haben wir ja kein Problem mit der zweifelhaften Menschenrechtslage in Putins Land, die wir im Fall Chodorkowskis so beklagen.

In den Tagesthemen wird Genscher nachher sagen, dass er zwar kein russisch verstehe, aber die Telefongespräche von Chodorkowski mit seinen Angehörigen ihm eine anrührende Szene im Auto bot. Er habe den Anwälten Chodorkowskis geholfen, weil es um eine humanitäre Maßnahme ging, die man immer und überall unterstützen müsse.

Jens Berger weist auf den NachDenkSeiten darauf hin, dass Chodorkowski nicht ausschließlich wegen Steuerhinterziehung, sondern wegen gewerbsmäßigen Betrugs, Unterschlagung und Geldwäsche eine lange Haftstrafe zu verbüßen hatte. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sah übrigens keine politische Motivation im Fall Chodorkowski und wies dessen Klage ab. Das russische Vorgehen gegen ihn sei allenfalls ungerecht gewesen, was auch bedeuten kann, dass gegen andere Oligarchen, die auf ähnliche Weise wie Chodorkowski zu Schürfrechten, Geld und Macht gekommen sind, keine Anklage erhoben wurde.

Unser neuer Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) scheint das alles nicht zu wissen oder öffentlichkeitswirksam auszublenden. Er sagte in Berlin zur Entlassung des Oligarchen: „Das ist eine gute Nachricht. Das ist aber auch eine Nachricht, die uns darauf hinweist, dass wir die Gespräche mit Russland über Rechtsstaat und Menschenrechte auch in den nächsten Jahren mit Engagement weiterführen müssen.“

Sehr interessant. Was will Steinmeier damit erreichen? Eine Haftverschonung für Leute, die nach unseren Gesetzen genauso hart bestraft worden wären, wie Chodorkowski für seine Vergehen in Russland? Steinmeier reklamiert Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte. Das sagt der Außenminister, der auch schon mal Kanzleramtschef war und eine zumindest zweifelhafte Rolle im Fall Murat Kurnaz spielte. Vielleicht sind wir auch nur, wie Albrecht Müller schreibt, auf den Weg zurück in den Kalten Krieg. Dann müsste man die Freilassung des Oligarchen als Art Agententausch verstehen. Jetzt müssen die USA nur noch sagen, den Snowden dürft ihr behalten.

Das wird aber nicht passieren. Wenn überhaupt sind wir in einem klimagewandelten Krieg, in dem sogar der Pilot der Maschine, die Chodorkowski ausflog, in den Online-Medien dieser Republik für sich und sein Unternehmen werben darf. Mit dem Firmenjet in die Freiheit, wenn man erstens die richtige Einstellung und zweitens die richtigen Kontakte hat. So etwas fehlt eben Leuten wie Snowden und Kurnaz.

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Verdrehte Überschriften

Geschrieben von:

Was fällt Ihnen beim Anblick dieser Überschrift in der FAZ ein?

Mindestohn_Furcht_Ökonomen

Sie ist falsch und müsste richtiger Weise lauten:

Mindestlohn fürchtet Ökonomen ohne Sachverstand

Besser ist natürlich die Überschrift von Arnold.

Ökonomen ohne Sachverstand fürchten Mindestlohn

Was hat der arme Mindestlohn nur getan? Den Ökonomen mit angeblichen Sachverstand gilt er als Massenvernichtungswaffe. “Der hohe Mindestlohn vernichtet Arbeitsplätze.” Schon allein diese Formulierung stößt sauer auf, da nicht der Mindestlohn, sondern der Arbeitgeber das Kündigungsschreiben unterzeichnet. Die “Ökonomen mit Sachverstand” im folgenden nur kurz ÖmS genannt, kritisieren die mangelnde Flexibilität des Mindestlohns. Sie vermissen also die bei Merkel bestellte flexible Lohnuntergrenze, die nach Branchen und Regionen gestaffelt zahlreiche Ausnahmetatbestände zulässt.

Zitat ÖmS: „Die Bundesregierung will ein Mittel verschreiben, von dem sie nicht weiß, wie es wirkt.” ÖmS weiß natürlich wie der Mindestlohn wirkt und führt nicht näher bestimmte theoretische und empirische Literatur zu Mindestlöhnen an. Darin steht, dass hohe Mindestlöhne Arbeitsplätze vernichten. Dann muss es also stimmen, obwohl kein Land dieser Welt, das Mindestlöhne hat, dies bestätigen könnte. Wenn die Arbeitslosigkeit wie im Süden Europas steigt, dann ganz sicher nicht wegen des Mindestlohns, sondern wegen einer Austeritätspolitik, die die Nachfrage rasiert.

Besonders schräg und zugleich menschenverachtend ist die Aussage von ÖmS: „Sie [eine Lohnkommission, Anm. tau) sollte auch einen Gestaltungsspielraum haben, bestimmte Gruppen durch Ausnahmeregeln zu schützen.“ Schutz wovor? Vor dem Vernichtungsfeldzug des Mindestlohns. Bestimmte Gruppen müssen vor allzu hoher Bezahlung beschützt werden, meint ÖmS. Das hat ja wirklich einen edlen Klang, ist aber nichts anderes als ein schäbiges Stück, das auch noch den Anspruch erhebt, wissenschaftlich zu sein. 

Gerade eben hat das Statistische Bundesamt einen Rückgang der Reallöhne verkündet. Und das mitten im Aufschwung und mitten in der alljährlich in den Köpfen von Leuten wie ÖmS stattfindenden Kaufrauschsause vor Weihnachten. Gleichzeitig präsentiert der Paritätische Wohlfahrtsverband eine neue Studie, die belegt, dass jeder siebte Haushalt als arm oder armutsgefährdet gilt. Doch das interessiert ÖmS nicht die Bohne, solange der Arme eine Arbeit hat. Deshalb fordert ÖmS auch ein Stimmrecht für sich und seinesgleichen in der geplanten Lohnkommission. Erst dann wäre die Unabhängigkeit gewahrt und eine vernunftbehaftete Entscheidung über den an sich gefährlichen Mindestlohn erst möglich.

Denn, so ÖmS, die Wissenschaft dürfe nicht von politischen Interessen instrumentalisiert werden. Auf welchem Instrument ÖmS wohl spielt, dürfte klar sein. Die SPD kann sich jetzt schon mal warm anziehen. Denn das Trommelfeuer gegen den Mindestlohn hat längst begonnen. Er wird es nicht überleben, auch wenn die Genossen das in ihre grenzenlosen Naivität, mit der sie am Rockzipfel der Kanzlerin hängen, sicherlich noch anders sehen.

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