Über diese Schlagzeile muss man sich wirklich wundern. Die Umfrageinstitute vermelden eine wackelnde Mehrheit auf Seiten des sog. „bürgerlichen Lagers“ aus CDU und FDP. Das „linke Lager“ hole auf, lautet die Botschaft. Bis zum 27. September steige die Spannung. Welche Spannung? Es gibt doch überhaupt keine. Die SPD liegt immer noch 10 Prozentpunkte hinter der Union. Sollte es nicht zu einer schwarz-gelben Mehrheit kommen, gibt es die Große Koalition. Wer also angesichts dieser Fakten über ein Kopf-an-Kopf-Rennen siniert, hat schlichtweg ein ernsthaftes Wahrnehmungsproblem.
Es ist auch sehr merkwürdig, dass man hier von Lägern spricht. Im Grunde gilt für die fünf Parteien CDU, CSU, FDP, SPD und Grüne doch eines. Nicht mit der Linkspartei. Somit muss die Linke auch aus der Betrachtung herausfallen und als eigenes Lager gezählt werden. Dann stünde es 48 Prozent für Schwarz-Gelb zu vielleicht 36 Prozent Rot-Grün. Nach Kopf-an-Kopf sieht das dann aber nicht mehr aus. Eher nach weit abgehängt oder weit voraus, je nachdem, welchen Blickwinkel man bevorzugt. Wenn also der SPD-Vizekanzlerkandidat Steinmeier Schwarz-Gelb verhindern will, braucht er zwangsläufig die Linke. Lustig was? Er tut aber so, als würde seine Partei das Zünglein an der Waage sein, und er berechtigte Chancen auf den Kanzlersessel haben. Einfach verrückt.
Die Medien scheinen das auch nicht so richtig einsortieren zu können und plappern derweil den Unsinn von einer Richtungsentscheidung nach. Wenn dem so wäre, könnte man Steinmeier darauf festnageln und ihn vorführen bzw. fragen, warum er denn schwarz-gelb mit Hilfe der Linkspartei verhindert und nicht aus eigener Kraft. Der Logik seiner Argumente folgend, müsste sich Steinmeier am Wahlabend nämlich hinstellen und verkünden, dass er eine schwarz-gelbe Minderheitsregierung aus Merkel und Westerwelle durch seine Partei tolerieren lässt, da ein Linksbündnis keinesfalls machbar sei. Die Regierung aus CDU und FDP zu verhindern, hieße ja, die Mehrheitsverhältnisse, die dann bestünden, zu nutzen. Das will der Steinmeier aber nicht. So und nun muss man mal die grauen Zellen etwas anstrengen und sich fragen, was eine Große Koalition, die ja dann kommen muss, eigentlich politisch repräsentiert.
RICHTIG! SCHWARZ-GELB!
Die Große Koalition ist nämlich inhaltlich nichts anderes als die Tolerierung einer schwarz-gelben Regierung durch die SPD, nur mit größerer Mehrheit und anderen Karrieristen in den entscheidenden Funktionen. Ich frage mich immer wieder, warum man Herrn Steinmeier nicht in schärfster Form auf diesen Sachverhalt anspricht und ihn damit konfrontiert, dass wesentliche Teile seines Wahlprogramms wie die Einführung von flächendeckenden Mindestlöhnen zum Beispiel oder einer gerechteren Besteuerung von hohen Einkommen und Vermögen nie und nimmer umgesetzt werden können. Im gestrigen NDR-Hörfunkinterview widersprach sich der Vizekanzlerkandidat, ohne dass die fragenden Journalisten da nachhakten.
In Bezug auf die Linkspartei sagte er, eine Zusammenarbeit sei nicht möglich, da es inhaltlich nicht ginge, wegen der ablehnenden Haltung der Linkspartei zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr und hier insbes. Afghanistan und zum Vertrag von Lissabon. Bei der Option einer Fortsetzung der großen Koalition aber, die Kollege Steinbrück öffentlich nicht für ein Unglück hält, sagte Steinmeier, dass eine Zusammenarbeit sich immer daran orientieren müsse, was inhaltlich möglich sei. Die Zusammenarbeit demokratischer Parteien in einer Demokratie dürfe nicht als Unglück gelten oder als solches empfunden werden, so Steinmeier. Der entscheidende Maßstab sei, was könne man mit einem Partner erreichen und was nicht.
Donnerwetter!, dachte ich. Die Journalisten im Studio offenbar auch und fragten dann prompt, aber widersinnig, ob eine Große Koalition dann nicht von vorn herein die bessere Option für die SPD sei, weil man sich schließlich kennen würde. Eigentlich hätte man in Kosequenz aus dem Gesagten unmissverständlich folgern müssen, dass Steinmeier und die SPD lieber als Juniorpartner in einer verdeckt arbeitenden schwarz-gelben Regierung in Afghanistan Krieg führen wollen, als in einer eigenen Regierung in Deutschland nachhaltig für soziale Sicherheit und witschaftliches Wachstum zu arbeiten. So sieht es aus. Ganz nach dem Motto, was mit einem Partner machbar ist und was nicht.
Die SPD stellt in ihrer derzeitigen Verfassung keine Alternative dar. Sie zu wählen, bedeutet immer, für die Fortsetzung einer Großen Koalition oder wie wir jetzt wissen, für eine verdeckt arbeitende schwarz-gelbe Regierung zu votieren. Aus Sicht der FDP ist dieser Zustand eigentlich komfortabel und genial. Haben sie sich nicht auch schon gefragt, warum Guido Westerwelle so viele Bundestagswahlen als Verlierer unbeschadet überstanden hat und es sich leisten kann, Machtoptionen kindisch auszuschließen? Weil er eben und seine Strippenzieher, also ein riesiger Lobbyhaufen aus Finanz- und Versicherungsakteuren, Gewinner sind. Ihre politischen Ziele und Interessen werden in einer Großen Koalition hinreichend bedient, ja selbst unter Rot-Grün war das so. Hinterher müssen sie sich nicht verantworten, da sie offiziell nicht an der Regierung beteiligt waren und können als Jäger in Wahlkämpfen ordentlich punkten.
Darum von mir wieder der Aufruf, setzen sie ihre beiden Stimmen weise ein und gehen sie am 27. September wählen. ;)
SEP
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.