Der böse Kapitän

Geschrieben von: am 21. Jan 2012 um 11:10

Seit der Havarie der “Costa Concordia” wurde der Kapitän sehr schnell als Sündenbock für die Katastrophe ausgemacht. Naiv verbreiteten die Medien die Geschichte vom Einzelgänger, der Freunden auf der Insel Giglio mit der riskanten Vorbeifahrt bloß imponieren wollte. Die Reederei distanzierte sich umgehend von ihrem Mitarbeiter und machte ihn allein für das Unglück verantwortlich. Keiner interessierte sich für die Frage, ob es vielleicht ein wirtschaftliches Interesse des Unternehmens gegeben haben könnte, im hart umkämpften Kreuzfahrtgeschäft mit einem besonderem Highlight aufzuwarten.

Tagelang rätseln Journalisten und Experten um die Motive des Kapitäns, ein derartiges Risiko in Kauf zu nehmen. Nun, es war wirklich zu erwarten, wurde bekannt, dass der Kapitän Francesco Schettino bereits 2010 die gleiche spektakuläre Route zwischen Insel und Festland wählte und dies auch der Reederei bekannt sein musste.

Wie ARD-Korrespondent Carsten Kühntopp berichtet, veröffentlichte die Reederei auf ihrer Webseite einen begeisterten Erlebnisbericht von einer solchen Vorbeifahrt vom August 2010. Kapitän auch damals: Francesco Schettino.  

Quelle: Tagesschau

Die Überraschung dürfte wieder groß sein. Aber nicht, weil man feststellte, dass systemisches Marktversagen inzwischen zur Regel geworden ist, bei dem es immer auch Opfer zu beklagen gibt, sondern weil hier mal wieder Einzelne aus Profitinteressen ein unverantwortliches Risiko eingegangen sind. Zum bösen Kapitän kommt vielleicht noch der böse Reederei-Manager und das war’s.

Das System, welches Niedertracht erst produziert und riskantes, der Gier geschuldetes, Verhalten belohnt – solange es gutgeht – darf hingegen fortbestehen.

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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Kommentare

  1. Trithemius  Januar 22, 2012

    Auf Studio Brussel wurde schon am 2. Tag nach dem Unglück gesagt, dass es üblich war, diese Route zu nehmen, um Passagieren und Einwohnern von Porto ein Schauspiel zu liefern. Auch ein anderer Kapitän der Reederei hatte das zuvor schon getan, und der Bürgermeister von Porto habe sich in einer Lokalzeitung begeistert gezeigt davon und sich beim Kapitän für die Durchfahrt bedankt.

    • adtstar  Januar 22, 2012

      Hat diese Info auch deutsche Medien erreicht? Kann mich nicht erinnern.

      • Trithemius  Januar 22, 2012

        Hab nirgendwo davon gelesen und mich auch gewundert, aber die Lokalzeitung müsste ja aufzufinden sein, wenn einer danach sucht. Es ist doch auch völlig naiv zu glauben, der Kapitän habe das auf eigene Verantwortung gemacht und die Reederei habe nicht gewusst, wo ihr Schiff lang fährt. Du deutest das ja schon an. Letztlich braucht man einen Sündenbock.

    • adtstar  Januar 22, 2012

      Danke für die Quelle.

      In der Tat sind die vielen Konjunktive bei der Berichterstattung merkwürdig. Die Bewohner der Insel müssten doch wissen, ob und wie oft ein Schiff bei ihnen vor der Haustür (was dann nach derzeitigem Stand ja nur unerlaubt stattgefunden haben kann) vorbeigeschippert ist.

      So viele Reporter vor Ort und keiner spricht mit den Leuten? Stattdessen wird den ganzen Tag über die Aussage des Kapitäns berichtet und wild über die Rolle der Reederei spekuliert.

      Offenbar darf nicht der Eindruck entstehen, dass hier ein verbotswidriges Verhalten von vielen ganz einfach als Normalität verstanden wurde.