Zum 9. November…

Geschrieben von: am 09. Nov 2010 um 22:50

…habe ich am 8. November 2009 schon etwas geschrieben, was auch heute noch gilt. Thilo Sarrazin ist immer noch aktuell und die öffentlich betriebene Hetze gegen Minderheiten fällt auf fruchtbaren Boden. Im Jahr 2006 war die Welt noch zu Gast bei Freunden, im Jahr 2010 ist der Ansatz für Multikulti gescheitert, absolut gescheitert, wie unsere Kanzlerin jüngst betonte, nachdem sie sich zuvor noch von Sarrazins Äußerungen distanziert hatte.

Die Versuchung, das politische Versagen mit einer neuerlichen Debatte um Integration und Identität vergessen machen zu können, war einfach zu groß. Das Schlimme ist nur, dass man den Politversagern diesen Müll wieder und wieder abkauft, sogar den Gipfel der Verblödung mit der Erfindung einer christlich-jüdischen Tradition. Dazu schreibt Prantl in der Süddeutschen:

Die neue Innigkeit ist nicht von Theologen und Pastoralklerikern ausgerufen worden, sondern von Politikern. Im Jahr 72 nach der Reichspogromnacht haben sie etwas entdeckt, was es nicht gibt: eine christlich-jüdische Tradition, eine gemeinsame Kultur. In Kürze soll diese auf dem CDU-Parteitag halbamtlich dekretiert werden. Das ist ein bemerkenswerter Vorgang, weil die nun beschworene Gemeinsamkeit über Jahrhunderte hin die Gemeinsamkeit von Tätern und Opfern war.

Die christliche-jüdische Geschichte besteht vor allem in der Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung der Juden und in der Verketzerung des Talmud. Und wo es gemeinsame Wurzeln gab, hat die Mehrheitsgesellschaft sie ausgerissen. Wenn Juden anerkannt wurden, dann nach ihrem Übertritt zum Christentum.

Das ist schon richtig formuliert, bis auf die Anerkennung der Juden durch den Übertritt zum Christentum. Das ist natürlich falsch. Die Nürnberger Rassegesetze waren diesbezüglich sehr eindeutig und die tödliche Umsetzung ein gesellschaftlicher Zeitvertreib.

Dennoch ist es beachtenswert, dass einer wie Prantl die neue staatsmännische Sprachregelung als Heuchelei geißelt, die nur dem einen Zweck dient, der lustvollen Ausgrenzung von Minderheiten weiter Vorschub zu leisten.

Zur Kritik gehört aber auch, einen Blick auf Deutschlands Selbstverständnis zu werfen. Der neue Messias am Politikfirmament Karl-Theodor zu Guttenberg rennt im Augenblick herum und lässt sich fotografieren, lässt die Bundeswehr zu einem Berufsheer umbauen und verkündet fröhlich jenen Blödsinn, den auch Ex-Bundes-Horst-Wer? Köhler beiläufig verkündete und anschließend zurücktrat, weil man es ihm nicht dankte. Nun schwadroniert also auch zu Guttenberg ganz offen über die militärische Sicherung von Rohstoffquellen und Handelswegen.

„Die Sicherung der Handelswege und der Rohstoffquellen sind ohne Zweifel unter militärischen und globalstrategischen Gesichtspunkten zu betrachten.“

Quelle: RP Online

Auf der Berliner Sicherheitskonferenz brachte der Freigeist seine Verwunderung darüber zum Ausdruck, dass Köhler seinerzeit für etwas geprügelt wurde, das im Grunde selbstverständlich sei. In der Tat muss man sich das fragen, zumal Frau Bundeskanzlerin in ihrer ersten Regierungserklärung vom 10. November 2009 genau dasselbe sagte.

„Mehr noch: Wir alle müssen verstehen, dass es um weit mehr geht als nur um die Bewältigung der Folgen der Krise in unserer eigenen Volkswirtschaft. Nein, die Karten werden weltweit neu gemischt. Das und nichts anderes ist die Dimension der Krise. Weltweit werden die Karten neu gemischt. Da gibt es eben keine angestammten Marktanteile und Positionen. Wer wird sich den Zugriff auf Rohstoffe und Energiequellen sichern? Wer lockt Investitionen aus anderen Teilen der Welt an? Welches Land wird zum Anziehungspunkt für die klügsten und kreativsten Köpfe?“

Quelle: Tautenhahn

Damals interessierte das bis auf Oskar Lafontaine nur keinen. Er war wohl der einzige, der Merkel zuhörte, auch wenn es schwer viel. Er warnte die Bundesregierung gleichzeitig davor, sich in Kriege einspannen zu lassen, die nur dem Zweck der Rohstoffsicherung dienten. Nun ist zu Guttenberg schon dabei und schafft sich eine Truppe von Willigen, befreit vom Staatsbürger in Uniform, vor dessen Särgen er noch öffentlich heulen musste. Nun soll das Morden für deutsche Wirtschaftsinteressen auf eine solide Geschäftsgrundlage gestellt werden. Das ist das eigentliche Ziel seiner Bemühungen.

Und die Herzen fliegen ihm dabei zu. Das ist schlimm.

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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Kommentare

  1. Careca  November 10, 2010

    Ich frage mich noch immer, ob der K-Rücktritt seinen Grund nicht doch eher bei den Geschehnisn des Frontbesuchs hatte. Der Vergleich zwischen amerikanischer und deutscher Heroenmentalität war vielleicht Doch nicht der einzige Zwischenfall. Vielleicht waren es die bilateralen Gespräche danach und Hitze war sauer, weil gemassregelt.

  2. Helge Henschke  November 10, 2010

    Was das Thema „jüdische Wurzeln“ und dessen allseitig oftmals menschenverachtend unwürdiger Behandlung betrifft, wundere ich mich immer über die unwidersprochene Undifferenziertheit und einseitige Betrachtungsweise politischer, historischer sowie konfessioneller Probleme in diesem Zusammenhang.
    Soviel darüber auch geredet zu werden scheint, werden grundsätzliche Fragen stets ausgespart.
    Was ist ein Semit bzw. Semitismus?
    Was bzw. wer ist Nicht-Semitisch bzw. Antisemitisch
    Wer ist eigentlich objektiv Jude und was dementsprechend das Juden-tum?
    Woraus (heilige Schriften, etnische Zugehörigkeit, Konfession etc.) ergeben sich völkerrechtlich und militärisch sinnvoll durchsetzbare Grenzen eines modernen Israels
    Wenn man entsprechende Quellen bemüht, stösst man auf viel unreflektierte Ideologie und entsprechend viele Widersprüche und Fragwürdigkeiten, auf deren unadäquater Ignorierung beruhend das menschlich grenzenlose Elend der europäischen Geschichte und die konfessionell-politischen Unglaublich- und Unglaubwürdigkeiten der Gegenwart beruhen und zugleich toleriert werden.
    Leider gibt es auch kein Forum, wo solche Fragen kulturvoll behandelt und praktikabel beantwortet werden könnten.
    Vielleicht wäre es ja doch sinnvoll die „Wurzeln“ als „griechisch-hellenistisch“ und „römisch“ bzw. eben einfach europäisch zu charakterisieren und unsere europäischen, semitisch konfessionellen Theisten in ihre Synagogen, Kirchen und Moscheen zu verweisen

    Es ist peinlich und traurig zugleich, wie sehr unsere Gesellschaft wieder konfessionalisiert und durch „Mummenschanz“ und „Götzendienerdeutsch“ längst vergangener und sich tausendmal dikreditiert habender, unethisch moralisierender Gestalten durchdrungen wird.
    Der gesunde Menschenverstand hingegen hat zu schweigen und in materiell wie psychisch prekären Situationen auf sich zurückgeworfen, menschlich schwächelnd den mit soviel Menschlichem Leid ursprünglich erschaffenen, humanistischen Geist kleinbürgerlich auszuhauchen.
    Der lediglich technische Fortschritt darf nicht wissenschaftlich sein und werden, wenn es um Grundfragen menschlicher und sozialer Existenz geht!!???
    Darum „vegeTieren“ wir so, wie wir leben …