
Die Sache mit dem abgewählten Bundestag, der noch schnell etwas entscheiden soll, damit es die kommende Regierung im neuen Parlament einfacher hat, ist heikler als gedacht. Bislang galt die Auffassung, dass es so etwas wie eine parlamentslose Zeit nicht gibt, sondern zu jeder Zeit neben der exekutiven, auch eine legislative Handlungsfähigkeit gegeben ist. So hätte beispielsweise der alte Bundestag, trotz der Auflösung des Parlaments nach Artikel 68 Grundgesetz, jederzeit einen neuen Kanzler wählen und das Verfahren zur Einleitung von Neuwahlen damit außer Kraft setzen können.
Artikel 68 Grundgesetz besagt:
(1) Findet ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, so kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers binnen einundzwanzig Tagen den Bundestag auflösen. Das Recht zur Auflösung erlischt, sobald der Bundestag mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen anderen Bundeskanzler wählt.
(2) Zwischen dem Antrage und der Abstimmung müssen achtundvierzig Stunden liegen.
Die ursprüngliche Legislaturperiode wäre bis zu ihrem regulären Ende weitergelaufen. Nun gab es diese Neuwahlen aber, und es ist zweifellos so, dass ein neuer Bundestag binnen 30 Tagen zusammentreten und seine Arbeit aufnehmen kann. Nun streiten die Gelehrten darüber, welche Rechte und Pflichten das alte Parlament in dieser Übergangszeit überhaupt noch beanspruchen kann. Nach bisheriger Lesart soll der alte Bundestag voll beschlussfähig sein, was auch jenes Manöver zur Änderung des Grundgesetzes einschließt, das jetzt mit Zweidrittelmehrheit angestrebt wird.
Je länger man aber darüber nachdenkt, desto stärker werden die Zweifel. Denn ganz sicher könnte der alte Bundestag, der angeblich noch über alle Rechte und Pflichten verfügt, nicht einfach aus seiner Mitte heraus einen neuen Kanzler wählen und damit den Prozess der gerade abgeschlossenen Neuwahl nach Artikel 68 Grundgesetz umkehren. Die vorgezogene Bundestagswahl bildet somit eine Art parlamentarische Zäsur, die es zu berücksichtigen gilt. Das ist dann womöglich auch anders zu betrachten, als die Zwischenzeit, die entsteht, wenn eine Legislaturperiode regulär zu Ende geht. Da ist schließlich nicht der Artikel 68 Grundgesetz maßgeblich, sondern Artikel 39.
Dort steht:
(1) Der Bundestag wird vorbehaltlich der nachfolgenden Bestimmungen auf vier Jahre gewählt. Seine Wahlperiode endet mit dem Zusammentritt eines neuen Bundestages. Die Neuwahl findet frühestens sechsundvierzig, spätestens achtundvierzig Monate nach Beginn der Wahlperiode statt. Im Falle einer Auflösung des Bundestages findet die Neuwahl innerhalb von sechzig Tagen statt.
(2) Der Bundestag tritt spätestens am dreißigsten Tage nach der Wahl zusammen.
(3) Der Bundestag bestimmt den Schluß und den Wiederbeginn seiner Sitzungen. Der Präsident des Bundestages kann ihn früher einberufen. Er ist hierzu verpflichtet, wenn ein Drittel der Mitglieder, der Bundespräsident oder der Bundeskanzler es verlangen.
Dieser Artikel erhält auch einen Satz zur vorzeitigen Auflösung des Bundestages. Er legt fest, wann die Neuwahlen stattzufinden haben. Gleichwohl wird nun geschlossen, dass sowohl beim regulären wie auch beim vorzeitigen Ende der Wahlperiode, diese erst dann endet, wenn ein neuer Bundestag zusammentritt. Folglich könne der alte Bundestag auch so lange einberufen werden und Entscheidungen treffen, bis sich das neue Parlament konstituiert. Denklogisch ist das, allerdings besteht eben ein wesentlicher Unterschied in der Kanzlerwahl.
Ein Parlament, das nicht vorzeitig „aufgelöst“ wird, sondern regulär nach vier Jahren zu Ende geht, könnte natürlich auch immer einen neuen Kanzler wählen, es änderte sich aber nichts am feststehenden Ende der Legislaturperiode und dem Wahltermin. Bei einer Kanzlerwahl nach Artikel 68 würde aufgrund der gewollten starken Stellung des Parlaments die ursprüngliche Legislaturperiode sofort wiederhergestellt. Der Auflösungsbeschluss des Bundespräsidenten sowie die angesetzten Neuwahlen wären hinfällig, auch nachdem der Beschluss gefasst ist und Neuwahlen angesetzt worden sind. Eine Bundestagswahl aber, egal ob sie vorgezogen oder regulär stattgefunden hat, führt derweil immer zur Konstituierung eines neuen Parlaments spätestens nach 30 Tagen.
Das Problem, das nun auftritt, ist die Rolle des alten Parlaments. Verfügt es noch über alle Rechte und Pflichten, dann hätte es theoretisch auch das Recht, einen neuen Kanzler zu wählen, um die vollen vier Jahre der ursprünglichen Legislaturperiode wiederherzustellen. Das ist de facto aber ausgeschlossen, weil eine Bundestagswahl bereits stattgefunden hat und sich folglich ein neues Parlament auf Grundlage des Ergebnisses konstituieren wird. Bedeutet das nun, dass das alte Parlament möglicherweise auch über andere Rechte nicht mehr verfügt? Wieso sollte es ihm insbesondere erlaubt sein, verfassungsändernde Beschlüsse zu fassen, an die sich das neue Parlament dann halten muss?
Die vorzeitige Auflösung des Bundestages ist schließlich die letzte Alternative zur Lösung einer Blockade, durch die der Kanzler und seine Regierung nicht mehr hinreichend handlungsfähig gewesen sind. Die Verfassung erlaubt diesen Weg, räumt aber konstruktiven Alternativen zur Lösung des politischen Konflikts immer Vorrang ein. Die können in der Kanzlerwahl bestehen (konstruktives Misstrauensvotum), in neuen Mehrheitsverhältnissen infolge von Koalitionsverhandlungen oder aber in einer Minderheitsregierung. Indem der Kanzler aber die Auflösung des Bundestages vorschlägt, das Parlament nicht widerspricht und der Bundespräsident dem Vorschlag folgt, schließlich auch Neuwahlen stattfinden, kann der alte Bundestag dann nur schwerlich ein besonderes Beschlussrecht vor der Konstituierung des neuen Parlaments für sich in Anspruch nehmen.
Zumindest stellt sich dann die Frage, warum er in der alten Zusammensetzung seine offenbar fortbestehende Handlungsfähigkeit nicht wahrnahm, um das auf ihn übertragene Vertrauen des Souveräns in der dafür vorgesehenen Zeit von vier Jahren zu erfüllen. Das Grundgesetz ist eindeutig in seiner Ablehnung eines destruktiven Parlamentarismus, wie er zu Zeiten der Weimarer Republik möglich war. So bleibt das beabsichtigte Manöver zur Änderung der Verfassung ein demokratisch fragwürdiger und womöglich auch verfassungsrechtlich unzulässiger Vorgang, der ja offenkundig nur im Lichte des vorliegenden Wahlergebnisses eingeleitet worden ist. Eine künftige Regierung muss aber eine Mehrheit für ihr politisches Programm in dem neu gewählten Parlament suchen. Es gibt keine zwei Parlamente, jedenfalls dann nicht, wenn eine Legislaturperiode aufgrund eines vorgeschobenen oder tatsächlich existierenden unlösbaren politischen Konflikts vorzeitig abgebrochen wird.
Die historischen Beispiele, die nun angeführt werden, scheinen auf der anderen Seite die Existenz zweier Parlamente zu bestätigen, unterscheiden sich aber in einigen Punkten wesentlich. So ist eine unaufschiebbare Eilbedürftigkeit nicht gegeben, auch fehlt es an einem übergreifenden Konsens zwischen den Lagern, die sowohl im alten wie auch im neuen Parlament vertreten sind. So macht ein nicht unerheblicher Teil der neugewählten Abgeordneten bereits deutlich, dass es die Vereinbarung der künftigen Koalitionäre, abgesichert durch eine Mehrheit im abgewählten Parlament, nicht mittragen will. Das gilt es bei einer Prüfung zu berücksichtigen. Zu beachten ist auch die Tragweite des beabsichtigten Beschlusses, der eine oder mehrere Änderungen des Grundgesetzes zum Ziel hat und damit eine qualifizierte Mehrheit (Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat) erforderlich macht, also eine höhere Zustimmung als üblich.
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MäRZ
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.