Vor der Vertrauensfrage

Geschrieben von: am 11. Dez 2024 um 22:33

Der Spiegel schreibt, der Kanzler wäre nach verlorener Vertrauensfrage nur noch geschäftsführend im Amt. Das ist falsch, da die Amtszeit des Kanzlers und seiner Regierung erst mit dem Zusammentritt eines neuen Bundestages endet (Art. 69, Abs. 2 GG) oder durch Wahl eines Nachfolgers aus dem jetzigen Parlament (Art. 67 GG). Nach einer Bundestagswahl bleiben Kanzler und Bundesregierung auf Ersuchen des Bundespräsidenten solange geschäftsführend im Amt, bis ein neuer Kanzler gewählt worden ist (Art. 69, Abs. 3 GG).

Diese Unterscheidung ist wichtig, da sich aus einer verlorenen Vertrauensfrage eben nicht zwangsläufig ergibt, dass neu gewählt werden muss. Der Bundeskanzler kann dem Bundespräsidenten die Auflösung des Bundestages vorschlagen, muss es aber nicht. Auf Vorschlag des Bundeskanzlers kann der Bundespräsident wiederum binnen 21 Tagen das Parlament auflösen und Neuwahlen ansetzen, er muss es aber nicht. Außerdem erlischt das Recht zur Auflösung, sobald der Bundestag mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen anderen Bundeskanzler wählt. In diesem Falle läuft die Legislaturperiode bis zu ihrem regulären Ende weiter.

Die Spielräume bleiben

Der Bundespräsident hat aber schon deutlich gemacht, wie er sich im Falle des Vorschlags zur Auflösung des Bundestages nach verlorener Vertrauensfrage verhalten würde. Auch ist aufgrund von Absprachen bereits öffentlich kommuniziert, dass der Neuwahltermin der 23. Februar 2025 sein soll, obwohl die dafür notwendigen Verfahren erst noch stattfinden müssen. In jedem Fall kann der Bundeskanzler nach verlorener Vertrauensfrage weiterregieren. Die Spielräume werden eben nicht enger, sondern bleiben so, wie sie sich nach dem Rausschmiss von Christian Lindner und der Entlassung weiterer FDP-Minister entwickelt haben.

So kann der Kanzler, wenn er es denn will, den Bundespräsidenten bitten, auch noch andere Minister zu entlassen und neue zu ernennen. Das ginge bei einer nur noch geschäftsführenden Regierung nicht. Da gilt der personelle Status quo. Neue Minister, die der Regierung bislang nicht angehört hatten, dürfen nicht berufen werden. Aber auch die geschäftsführende Bundesregierung unterliegt keinen eingeengten Spielräumen. Sie kann genauso Gesetzesvorhaben starten oder den Haushalt einbringen. Die Minister dürfen auch weiterhin Verordnungen und Vorschriften erlassen. Die allgemeine politische Zurückhaltung ist ein Brauch, aber nicht Gesetz. Was der geschäftsführende Kanzler hingegen nicht kann, ist die Vertrauensfrage zu stellen. Das neue Parlament muss erst einen Kanzler wählen.

Darin erkennt man auch, dass es den Vätern und Müttern des Grundgesetzes wichtig war, aus guten Gründen eben kein profanes Selbstauflösungsrecht des Bundestages in die Verfassung zu schreiben, sondern das Parlament zu einem konstruktiven Handeln zu verpflichten. Die Entwicklung des Instruments der Vertrauensfrage zu einer „unechten“ Vertrauensfrage, die in der Absicht gestellt wird, nicht das Vertrauen des Bundestages ausgesprochen zu bekommen („konstruiertes Misstrauen“), läuft dem augenscheinlich zuwider. Jedoch wird die Zulässigkeit eines solchen Vorgehens durch das Bundesverfassungsgericht mehrheitlich mit dem Argument begründet, dadurch eine handlungsfähige Regierung im Sinne des Grundgesetzes wiederherzustellen.

Politische Instabilität

Dem geht logischerweise voraus, dass eine Lage politischer Instabilität eingetreten sein muss, die amtierende Bundesregierung also nicht mehr handlungsfähig ist und dieser Zustand nur noch durch eine Neuwahl des Bundestages überwunden werden kann. Darüber streiten sich nun die Geister. Denn ob eine Lage politischer Instabilität vorliegt, entscheidet allein der Kanzler. Ihm steht die sogenannte Einschätzungsprärogative zu. Die fehlende Kanzlermehrheit ist zunächst einmal kein Kriterium, entscheidend ist die Prognose des Kanzlers, seine politischen Ziele nicht mehr umsetzen zu können. Das muss freilich auf Tatsachen beruhen. Im konkreten Fall ist die Sache mit dem gescheiterten Haushalt aber klar.

Der Kanzler benötigt für seine Politik einen Überschreitungsbeschluss des Bundestages, um die Schuldenbremse aussetzen und den vereinbarten Finanzplan umsetzen zu können. Dafür gibt es keine Mehrheit, weshalb die abschließenden Beratungen bereits abgesagt worden sind. Eine drohende Abstimmungsniederlage konnte damit zwar verhindert werden, materiell reicht das aber bereits für die Zulässigkeit der unechten Vertrauensfrage. Das ist dann auch der Unterschied zu 2005, als die rot-grüne Regierung sehr wohl über eine formelle Mehrheit verfügte und sogar drohende Abstimmungsniederlagen gerade mit dem Instrument der Vertrauensfrage verhindert werden konnten. Denn systematisch betrachtet, ist die Vertrauensfrage auf den Erhalt der Regierungsfähigkeit gerichtet, weshalb es zum Beispiel auch zulässig ist, die Vertrauensfrage mit einer Sachfrage zu verknüpfen.

Das alles spielt aber im aktuellen Fall keine Rolle, da die nunmehr rot-grüne Minderheitsregierung in wesentlichen Fragen der Politik erkennbar über keine eigene Mehrheit mehr verfügt, die Lage einer politischen Instabilität somit durchaus gegeben ist, sofern der Kanzler diese auch selbst so einschätzt. Bislang trat der ja immer mit der Überzeugung auf, alles im Griff zu haben. Auf die angekündigte Erklärung darf die Öffentlichkeit gespannt sein. Fest steht, dass auch nach der verlorenen Vertrauensfrage weiter Beschlüsse im Bundestag gefasst werden sollen. Kindergeld, Kinderzuschlag, kalte Progression, Deutschlandticket und Strompreise. Ein straffes Programm. „Ein Schulterschluss der demokratischen Mitte in diesen wichtigen Fragen wäre ein starkes Zeichen“, sagte der Kanzler.


Bildnachweis: InstagramFOTOGRAFIN auf Pixabay

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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