In einer Demokratie können Regierungen zerbrechen. Davon geht die Welt nicht unter. Schaut man sich aber die alberne Diskussion um den Neuwahltermin an, könnte man denken, eine Katastrophe steht bevor. Das Land brauche so schnell wie möglich eine neue Regierung und damit stabile Verhältnisse. Handlungsunfähigkeit könne man sich nicht leisten. Dabei gab es die nur, als die Ampel noch regierte. Jetzt sieht das theoretisch anders aus. Denn in dieser Demokratie kommt es auf das Parlament an, nicht auf die Regierung.
Warum? Weil das politische System eine parlamentarische Demokratie ist, dem Bundestag also eine entscheidende Bedeutung zukommt. Das Parlament bestimmt und kontrolliert die Regierung und verabschiedet unter Beteiligung des Bundesrates die Gesetze. Das Parlament entscheidet also, was auch logisch ist, da nur die Abgeordneten direkt vom Volk gewählt sind. Damit ist der Bundestag in besonderer Weise demokratisch legitimiert – und auch verantwortlich. Die Abgeordneten haben das Recht, den Bundeskanzler per konstruktivem Misstrauensvotum zu ersetzen, wenn sie der Meinung sind, dass der amtierende Regierungschef keine Mehrheit mehr besitzt und ein besserer Kandidat mit Mehrheit zur Verfügung steht.
Die Abgeordneten haben aber auch das Recht, selbst gesetzgeberisch aktiv zu werden und den Bundeskanzler und dessen Regierung auf Grundlage von Beschlüssen zur Umsetzung dieser zu verpflichten. Die Abgeordneten können den Bundeskanzler aber nicht dazu zwingen, eine Vertrauensfrage zu stellen, die leider nur noch als Mittel zur Selbstauflösung des Parlaments betrachtet wird. So war sie aber nie gedacht. Der Parlamentarismus, wie ihn das Grundgesetz versteht, war aus der Weimarer Erfahrung heraus, immer darauf ausgerichtet, konstruktive Verhältnisse zu schaffen. Ein Kanzler ohne parlamentarische Mehrheit bleibt daher trotzdem der Kanzler und zwar so lange, bis sich das Parlament mehrheitlich auf einen Nachfolger einigt. Das gilt während einer Legislaturperiode wie auch darüber hinaus.
Ein Kanzler, der während einer Legislaturperiode seine parlamentarische Mehrheit verliert, ist auch nicht, wie jetzt häufig zu hören, nur noch geschäftsführend im Amt. Er kann ja die Vertrauensfrage stellen, was dem geschäftsführenden Kanzler untersagt ist. Geschäftsführend ist der Kanzler erst dann, wenn ein neuer Bundestag gewählt und die Regierungsbildung noch nicht abgeschlossen ist. Während der Legislaturperiode ist der gewählte Kanzler also der Kanzler mit oder ohne parlamentarische Mehrheit. Die Vertrauensfrage dient dem Kanzler in der Regel dazu, sich zu vergewissern, ob seine Politik vom Bundestag weiter unterstützt wird, er also noch die Zustimmung der Mehrheit der Abgeordneten hat.
Der Vertrauensfrage wohnt demnach ein konstruktiver Ansatz inne, der aber mit der Zeit durch eine Art Selbstauflösungsrecht ersetzt worden ist. Die Kanzler Kohl und Schröder haben für diese auch vom Bundesverfassungsgericht bestätigte Auslegung des Artikel 68 GG gesorgt. Was dabei aber immer wieder unterstellt wird, ist ein gewisser Automatismus, dass die verlorene Vertrauensfrage zur Auflösung des Bundestages zwangsläufig führen muss. Das ist falsch. Der Bundespräsident kann den Bundestag auf Vorschlag des Kanzlers auflösen, muss das aber nicht. Und, noch viel wichtiger, das Recht zur Auflösung erlischt, sobald der Bundestag mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen anderen Bundeskanzler wählt.
So unterstreicht auch der Artikel 68 GG die konstruktive Rolle des Parlaments, die aber, so scheint es jedenfalls, bei den modernen Abgeordneten gar nicht mehr so sehr im Bewusstsein verankert ist. Sie haben die parlamentarische längst durch die Vorstellung einer Kanzlerdemokratie ersetzt und schreiben der Exekutive einen deutlich stärkeren Machtanspruch zu. So erklärte sich das Parlament während der Corona-Pandemie sogar kurzerhand für unzuständig und erteilte der Regierung weitreichende Entscheidungskompetenzen. Parlamentarische Kontrolle, Fehlanzeige. Umso widersprüchlicher ist daher die aktuelle Diskussion und das Drängen auf die Vertrauensfrage. Der Oppositionsführer könnte sich schließlich auch selbst per konstruktiven Misstrauensvotum zum Kanzler wählen lassen und dann die Vertrauensfrage in der Absicht stellen, diese zu verlieren, wenn es ihm nur darum ginge, den richtigen Zeitplan für Neuwahlen durchzusetzen.
Stattdessen wird der amtierende Bundeskanzler oder die Bundeswahlleiterin für deren Verfahrensvorschläge und Hinweise beschimpft. Es wird mit allerlei medialem Trommelfeuer der Eindruck erweckt, die Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit des Landes hänge von einem möglichst frühen Wahldatum ab. Doch dann, man hat es dem sprücheklopfenden Möchtegern-Kanzler im Wartestand wohl mal in Ruhe erklärt, einigen sich alle Beteiligten auf einen Termin im Februar, also zwischen Ende März, dem Untergang des Abendlandes, und Anfang Januar, dem kolportierten Wahlchaos nur ohne Berlin Marathon. Laut Agenturen sollen SPD und Union zu dieser Übereinkunft gekommen sein, Grüne und FDP tragen diesen Vorschlag allem Anschein nach mit.
Das Parlament ist im Gegensatz zur Ampelregierung also handlungsfähig. Das ist die gute Nachricht. Es könnte aber noch mehr erreichen, zum Beispiel ein Haushaltsgesetz verabschieden, das Sicherheit für das kommende Jahr herstellt. Denn realistischerweise dürften einer Neuwahl, ob sie nun im Januar, Februar oder März stattfindet, Monate der Regierungsbildung folgen, so dass ein Haushalt vermutlich erst im Sommer oder Herbst beschlossen werden könnte. Und da liegt der eigentliche Kern des Problems, der aktuell in der aufgeregten wie absurden Debatte um den richtigen Wahltermin gar nicht mehr betrachtet wird. Die Staatsfinanzen. Die Ampelregierung scheiterte an der Schuldenbremse und zwar fortlaufend. Das war insbesondere nach dem Haushaltsurteil des Bundesverfassungsgerichts gelebte wie demonstrierte Handlungsunfähigkeit.
Die Abgeordneten von SPD, Grünen und der Union könnten nun etwas daran ändern. Sie verfügen über zweidrittel der Mandate, könnten also sogar die Verfassung gemeinsam ändern, um beispielsweise die Regeln der Schuldenbremse so anzupassen, damit auch ein FDP-Finanzminister, den es hoffentlich nie wieder geben wird, nicht mehr wahrheitswidrig behaupten kann, er verstoße gegen seinen Amtseid. Vielleicht erklärt es einer dem sprücheklopfenden Möchtegern-Kanzler im Wartestand auch noch einmal ganz in Ruhe, dass er ebenfalls finanzielle Spielräume, also eine Strategie für die Staatsfinanzen benötigt, wenn er denn stabil und handlungsfähig regieren will.
Hier mit SPD und Grünen konstruktiv zu kooperieren, wäre jedenfalls besser, als sich aus Furcht vor einer unangenehmen Mehrheit mit der AfD nun ganz aus dem parlamentarischen Tagesgeschäft zu verabschieden und keine Initiativen und Anträge mehr einzubringen.
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Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.