Öffentlicher Druck

Geschrieben von: am 08. Nov 2024 um 10:11

Die Entscheidung des Bundeskanzlers, die Vertrauensfrage nicht sofort, sondern erst im Januar zu stellen, wird sich kaum durchhalten lassen. Es gibt im Grunde niemanden aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, der das Zuwarten unterstützt, mit Ausnahme von SPD und Grünen sowie einiger Wahlexperten, die in der Organisation einer Neuwahl über Weihnachten und den Jahreswechsel ein Problem sehen. Das ist aber lösbar, wie die Bundeswahlleiterin erklärt.

Kanzler und SPD hoffen durch ein Hinauszögern der Vertrauensfrage den Rückstand in den Umfragen noch aufholen zu können. Sie brauchen mehr Zeit für den Wahlkampf, um zumindest wieder so stark zu werden, damit nicht gegen sie regiert werden kann. Derzeit gibt es nach Umfragen ja noch eine rechnerische Mehrheit für Schwarz-Grün. Die Unterredung des Kanzlers mit dem Oppositionsführer Merz verlief allerdings nach Medienberichten recht kurz und ohne Ergebnis. Beide verstehen sich einfach nicht. Versuche der Zusammenarbeit scheiterten in den letzten drei Jahren zuhauf.

So bleibt die Union bei ihrer Kernforderung, dass Zugeständnisse in Sachfragen oder beim Haushalt erst dann erfolgen könnten, wenn Scholz die Vertrauensfrage sofort stellt. Der Oppositionsführer befindet sich damit in einer relativ guten Position, da er eine breite Öffentlichkeit hinter sich weiß, wie die vielen Kommentare und Einschätzungen zeigen. Es dürfte dem Kanzler daher schwerfallen, die Union mit Regierungsvorlagen, etwa zur steuerlichen Erleichterung von Arbeitnehmern oder zur Ukraine-Unterstützung, im Bundestag zu locken und öffentlich vorzuführen. Solche Manöver könnten der SPD also mehr schaden als nutzen.

Es bleibt dennoch abzuwarten, welche Position am Ende überzeugender ist. Die Genossen hoffen auf einen Imageschaden bei Union und FDP, wenn die rot-grüne Vorlagen ablehnen, denen sie eigentlich zustimmen müssten. Der Ausgleich bei der kalten Progression, ein fertiges Lindner-Gesetz, oder mehr Hilfen für die Ukraine, das sind Vorhaben, die nach Lesart des Kanzlers keinen Aufschub dulden und von Union und FDP auch befürwortet werden. Sie würden damit auch Wahlkampf machen, müssten ihre vorläufige Ablehnung der Öffentlichkeit also erklären. Auf der anderen Seite herrscht aber großes öffentliches Verständnis für die Forderung nach rascher Vertrauensfrage und schnellen Neuwahlen.

Ein weiteres Kalkül könnte auch darin bestehen, Union und FDP zu einer Zusammenarbeit mit der AfD zu verleiten, um den Fall der Brandmauer zu skandalisieren und mit allerlei Faschismusrhetorik aufzuladen. Das könnte in weiten Teilen der Öffentlichkeit durchaus verfangen, verlangt aber ein gehöriges Maß an Dummheit auf Seiten der Opposition. Dass sich die SPD in diesem Fall in Anlehnung an die Geschichte als einzige Widerstandspartei gegen Nazis und steigbügelhaltende Bürgerliche inszenieren würde, liegt auf der Hand. Allerdings verstehen sich die Grünen mittlerweile als die wahre Partei des Antifaschismus.

Die Grünen, die bislang an der Seite des Kanzlers bleiben und ihn scheinbar stützen, tun das wiederum nur aus purer Ratlosigkeit. Denn mit ihren Kernthemen Energiewende und Klimaschutz dringen sie bei niemandem mehr durch. Diese kompromisslose Politik, die bereits familiär verbundene und ideologisch geprägte Staatssekretäre forderte, ist längst als teurer und sinnloser grüner Sonderweg verbrannt. Weshalb sich die Grünen in ihrer Not nun fast gänzlich dem Thema Ukraine und einem angeblichen Freiheitskampf widmen. Sie seien bereit, in der Rest-Regierung auszuharren, „wenn es sein muss, auch unter russischem Beschuss im Regierungsbunker“, wie Wolfgang Michal im Freitag spottet.

Circa 80 Prozent ihres Statements am Abend des Ampelbruchs widmeten die Grünen dem angegriffenen Land im Osten. Angesichts einer in der jetzigen Weltlage auch hierzulande deutlich zu spürenden Renationalisierungstendenz („Deutschland First“-Stimmung) werden es die Grünen schwer haben, mit ihren Wünschen nach mehr Geld und mehr Waffen für die Ukraine bei der deutschen Bevölkerung durchzudringen.

Unterm Strich: Der Kanzler wird seinen Fahrplan aus Mangel an Unterstützung eher korrigieren und die Vertrauensfrage wegen des Drucks von außen früher stellen müssen. Bis dahin gibt es aber am Mittwoch noch einmal großes Theater im Bundestag zu sehen, mit Regierungserklärung des Kanzlers und der Antwort des Oppositionsführers. Außerdem ist Markus Söder mit dabei, der sich so eine Bühne natürlich nicht nehmen lässt. Schließlich geht es neben Deutschland immer auch um Bayern.


Bildnachweis: FelixMittermeier auf Pixabay

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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