Es gibt immer mal wieder Stimmen, die Legislaturperiode von vier auf fünf Jahre zu verlängern. Man hätte dann mehr Zeit, Politik zu machen und Projekte anzuschieben, die wichtig sind. Außerdem müsse man sich weniger mit Wahlkampf beschäftigen. Die aktuelle Koalition befindet sich derzeit im dritten Regierungsjahr. Und seit gefühlt einem bis zwei Jahren wird schon über vorgezogene Neuwahlen spekuliert und gerade jetzt wieder sehr akut. Vielleicht sollte man dann doch lieber über eine generelle Verkürzung von Wahlperioden nachdenken.
Spätestens mit dem Haushaltsurteil des Bundesverfassungsgerichts musste klar sein. Die Ampel funktioniert so nicht. Die heilige Dreifaltigkeit aus mehr Investitionen bei konsequenter Einhaltung der Schuldenbremse und der Vorgabe, die Steuern nicht zu erhöhen, konnte nur mit einer Reihe von Sondervermögen aufgehen, die außerhalb der ideologischen Verbohrtheit als Wümmse das Licht der Welt erblickten. Dabei waren Schattenhaushalte gar nicht neu, sondern bereits von den strengsten schwarzen Nullen immer wieder genutzt worden, um vor dem Souverän als solide Kassenwarte zu erscheinen. Der Kanzler im Wartestand täte daher gut daran, es bei seiner Kritik an der Finanzpolitik der Ampel nicht zu übertreiben. Schließlich hat es der Schäuble erfunden.
Doch inzwischen geistert mal wieder das Neuwahlgespenst durch die Gazetten, weil die FDP ein Papier geschrieben hat, das in den Augen blasierter Top-Journalisten, die sich an die 1980er Jahre erinnert fühlen, wie eine Scheidungsurkunde wirkt. Nur warum sollte es die gelbe Splitterpartei auf einen Bruch der Koalition und Neuwahlen anlegen. Sie hat gar keine Machtoption und kann durch so ein Manöver nichts gewinnen, was auch dem Autor des Papiers inzwischen aufgefallen ist. In den Umfragen liegen die Liberalen bei knapp unter 5 Prozent. Auf sie käme es bei der Bildung einer neuen Bundesregierung ohnehin nicht mehr an. Also was sollte das Motiv sein? In grässlicher Schönheit sterben und hoffen, dadurch Mitleidsstimmen an der Wahlurne einzuheimsen? Die Wahrheit ist wohl eher, die politische Führung ist vollkommen verblödet. Sie haben keine Erklärung für den Niedergang und klammern sich daher an den Unsinn, der auf ihren Sprechzetteln steht.
Schuld sind immer die Menschen, die nicht so wollen, wie die Theorie es vorgibt. Deshalb werden beispielsweise die Regeln zum Bezug von Bürgergeld erneut verschärft, obwohl das auch Geld kostet und gleichzeitig klar ist, dass die Wirtschaft überhaupt nicht mehr richtig läuft, was schwerlich an vermeintlich arbeitsunwilligen Menschen liegt, als vielmehr an einer falschen Politik. Aber die Theorie ist ja niemals falsch, wie das sonderbare Papier des FDP-Chefs zeigt. Darin wärmt er bekannte Positionen auf, wie beispielsweise die Abschaffung des Solidaritätszuschlags, den ja rund 90 Prozent der Einkommensbezieher ohnehin nicht mehr zahlen. Erhoben wird die Abgabe dagegen noch bei Besserverdienern, Kapitalanlegern und Unternehmen. Rund 12 Milliarden Euro nimmt der Bund über diese Steuer ein. Lindner will darauf verzichten und dann – obwohl die Steuerschätzung schlechter ausfällt als erwartet – trotzdem einen Haushalt ohne Loch vorlegen. Houdini?
Der Verzicht auf Steuern bei den Reichen führt nicht zu mehr Wachstum und mehr Einnahmen. Diesen Versuch hatte zuletzt Donald Trump unternommen und ist gescheitert. Dem wollen die Liberalen doch nicht nacheifern? Die Forderung nach einer Komplettabschaffung gab es schon in den Koalitionsverhandlungen vor drei Jahren. Nun kommt sie wieder auf den Tisch, wahrscheinlich weil das Bundesverfassungsgericht am 12. November über eine von sechs FDP-Abgeordneten vor vier Jahren eingereichte Verfassungsbeschwerde verhandeln will. Der Bundesfinanzhof hatte bereits entschieden, dass der Bund den Soli weiter kassieren darf. Vielleicht kennt der Finanzminister ja die Argumente, bleibt aber aus politischen Gründen beim Sprechzettel, von dem er zu Recht hoffen durfte, dass er in der Öffentlichkeit verfängt. Ein Teilerfolg. Alles spricht über „Wirtschaftswende“, aber nicht über Lindners plumpe Klientelpolitik.
Taugt das alles nun für eine „Zerreißprobe“, zum „Scheidnungsbrief“ oder für „brennende Hütten“? Dass die drei Ampelparteien unterschiedliche Vorstellungen über Wirtschaftspolitik haben, war schon vorher klar. So wird man sich am Mittwoch im Koalitionsausschuss vermutlich erneut die Sprechzettel gegenseitig vorlesen und danach wieder auseinandergehen. Vielleicht wird es eine Einigung geben, die aber nur so klingt, weil das Ergebnis mit Sicherheit unterschiedliche Interpretationen auslöst, über die man dann wieder einige Zeit streiten kann. Das ist alles jedenfalls sehr viel plausibler als ein Neuwahlszenario, für das es schließlich strikte Vorgaben gibt. So einfach wie es Chefredakteure und Reporter durch Weglassen wesentlicher Fakten ihren Lesern vorzukauen versuchen, ist es ja nicht.
Vergessen wird zum Beispiel, dass der Bundespräsident ein Sozialdemokrat ist, der den Bundestag überhaupt nicht auflösen muss, sondern im Falle einer verlorenen Vertrauensfrage selbst entscheiden kann, ob die Legislaturperiode abgebrochen wird oder weiterläuft. Doch wie kommt man eigentlich darauf, dass der Bundeskanzler überhaupt bereit wäre, die Vertrauensfrage zu stellen? Nur er kann dieses Verfahren einleiten, sonst niemand. Bislang hat er in diese Richtung keine Bereitschaft erkennen lassen, sondern klar Ablehnung signalisiert. „Das ist doch ein kleines Oppositionsideechen, dass man mal immer so alle drei Wochen dieses Wort sagt.“ Scholz betonte außerdem, dass es nun einmal schwierig sei, überhaupt noch funktionierende Regierungen zu bilden und man daher trotz aller Widersprüche gemeinsam etwas zustande bringen müsse. Er will die Zeit also aus- oder absitzen.
Der Oppositionsführer, der das Papier der FDP durch die Blume ja anscheinend begrüßt, könnte natürlich auch ein konstruktives Misstrauensvotum wagen und sich mit den Stimmen der Union, der FDP und der AfD zum Kanzler wählen lassen. Aber dieses Szenario wird zurecht als absurd nicht einmal in Erwägung gezogen. Wieso also dann der Ruf nach einer Vertrauensfrage? Der Kanzler ist gewählt und er bleibt es auch bis zur Wahl eines neuen Kanzlers. Journalisten täten also gut daran, die Verfassung zu respektieren und sie ihren Lesern, die sie ja wahlweise für Idioten halten, weil sie die „falschen“ Parteien wählen, auch mal richtig zu erklären. Eins ist jedenfalls sicher. Die nächste Regierung würde noch schlechter. Denn auch ein Friedrich Merz hat nicht mehr als einen Sprechzettel zu bieten.
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Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.