Ein Unfall beim globalen Denken

Geschrieben von: am 27. Aug 2024 um 11:45

Gelegentlich ist zu hören, man könne eine Atommacht besiegen. Afghanistan habe das gezeigt. Okay. Afghanistan hat die Sowjetunion besiegt. Das hat zehn Jahre gedauert. Dann hat das Land die Amerikaner und viele andere Staaten in 20 Jahren Krieg besiegt. Frage: Wie lange soll die Ukraine denn kämpfen, um nun Russland zu besiegen oder Putin zu einem Ende der Kampfhandlungen zu zwingen? Und wie wird dann die Demokratie in Kiew aussehen? So wie in Kabul? Solche Fragen stellen sich die hiesigen Experten nicht, die alarmiert vom Geschehen auf dem Schlachtfeld sind. Die Ukraine ist ihnen wie auch Afghanistan herzlich egal. Was zählt, sind die Folgen für den Westen.

Zwei, die sich darüber Gedanken machen, sind Claudia Major und Jana Puglierin, die hier in der Zeitschrift für Internationale Politik einen Aufsatz geschrieben haben. Es lohnt sich, diesen einmal genauer anzuschauen. Es geht zunächst um Schadensbregenzung, weil nicht eintreten will, was bislang expertiert worden ist.

Doch dass Russland gewinnt, ist nicht ausgemacht. Vier Faktoren entscheiden über den Kriegsverlauf: die gesicherte Bereitstellung von Material, inklusive Ersatzteile und Wartung; Personal (Zahl und Ausbildung); die wirtschaftlich-­finanzielle Unterstützung, um den ukrainischen Staat am Laufen zu halten; und die politische Unterstützung, wie in den Vereinten Nationen, den G7, der NATO und der EU. In allen Bereichen hängt die Ukraine weitgehend vom Westen ab: Umfang und Geschwindigkeit der Unterstützung wirken sich direkt an der Front aus – im Negativen wie im Positiven.

Der Sieg ist weiterhin möglich oder wie es im Text heißt, die Chance der Ukraine noch da, den Krieg zu ihren Bedingungen beenden zu können. Aber ein Stellvertreterkrieg ist es nicht, auch wenn die Ukraine weitgehend vom Westen abhängig ist und, wie der Artikel ja klar belegt, darunter leidet, was innenpolitisch in den USA, Deutschland oder anderen Staaten gerade von Bedeutung ist. Daher lassen die westlichen Reaktionen Zweifel an den Erfolgsaussichten der Ukraine aufkommen. Der Westen wolle Russland allenfalls schwächen, aber nicht schlagen und habe dabei versagt, den Globalen Süden gegen Russland in Stellung zu bringen.

Es ist daher unwahrscheinlich, dass Kiew die militärische, politische und finanzielle Unterstützung in dem Umfang und zu dem Zeitpunkt erhält, die notwendig wären, um nicht nur die Asymmetrie gegenüber Russland auszugleichen, sondern in eine Überlegenheit zu kommen, die Moskau an den Verhandlungstisch zwingt. […] Ein Blick in die aktuellen Zahlen und Planungen zeigt zudem: Es geht perspektivisch nicht um mehr Unterstützung, sondern um weniger.

Was also tun? Auf jeden Fall nicht die bittere Realität zum Anlass nehmen, um zu reflektieren, welchen intellektuellen Unsinn man seit Beginn des Krieges verbreitet hat, sondern so tun, als hätte es erstens ganz anders kommen können (zum Glück gibt es ja die Dolchstoßlegende: „…der Ansatz, Moskau durch militärischen Druck zu Zugeständnissen am Verhandlungstisch zu zwingen, wurde nicht konsequent umgesetzt“). Zweitens dürfe man jetzt nicht aufgeben (offenbar im Sinne deutscher Tugenden gemeint). Es drohe schließlich ein Diktatfrieden Russlands, was natürlich etwas anderes wäre, als ein Ende des Krieges zu den Bedingungen der Ukraine (Ausdruck intellektueller Schlichtheit). Daher empfehlen die Expertinnen eine Verstärkung der Hilfen, was sie im gleichen Satz aber wieder relativieren, da ja bei den westlichen Unterstützern so gar nichts mehr darauf hindeute.

Das Investment darf nicht umsonst gewesen sein

Bleiben dann am Ende nur Überlegungen, wie man das Schlimmste noch verhindern könne. Immerhin setzen sich die Autorinnen mit den Bedingungen Russlands auseinander, um allerdings festzustellen, dass diese unannehmbar sind, weil sie die Ukraine zu einem Vasallenstaat Moskaus machten, was nicht zu Stabilität, sondern Chaos führen würde. Auch erwähnen die Autorinnen Umfragen zu Gebietsabtretungen und tragen der jüngsten Aussage des ukrainischen Präsidenten Selenskyj Rechnung, wonach so eine Lösung in Betracht käme, aber nur durch das Votum der Bevölkerung herbeigeführt werden könne. Interessant ist allerdings dieser Absatz:

Wenn die westlichen Unterstützer eine totale Niederlage der Ukraine verhindern wollen, müssen sie sich die Frage stellen – und diese unbedingt mit der ukrainischen Regierung diskutieren –, unter welchen Bedingungen ein Waffenstillstandsabkommen für Kiew überhaupt vorstellbar wäre: Wann könnte eine ukrainische Regierung ein Ende der Kämpfe akzeptieren, auch wenn vorübergehend Gebiete russisch besetzt blieben? Und wie soll sie das als Erfolg (oder zumindest nicht als Niederlage) erklären, wo doch offensichtlich wäre, dass Russland sich mit seiner militärischen Logik durchsetzen konnte.

Was hat denn der Westen jetzt wieder damit zu tun, wo doch immer betont worden ist, die Ukraine entscheide über ihr Handeln immer allein und souverän? Dieser Absatz zeigt, den westlichen Expertinnen ist die Ukraine herzlich egal. Was zählt sind die Folgen, die eine Niederlage auf den Westen haben könnte. Es folgen daher drei Szenarien, die dann auch nur für den Westen annehmbar wären, was die Expertinnen aber nicht daran hindert, es auch vorteilhaft für die Ukraine erscheinen zu lassen.

  1. Politisch wäre bereits das Überleben der Ukraine als souveräner und demokratischer Staat ein Erfolg – denn Russland wollte ihn vernichten.

    Mit anderen Worten: Hey, ihr habt es versucht und die Russen für uns geschwächt. Euer Land ist trotz Gebietsverlusten immer noch groß genug.

  2. Wirtschaftlich geht es um den gesicherten Wiederaufbau, eine unumkehrbare Integration in die EU und damit die Aussicht auf Prosperität.

    Hey, wir haben zwar immer gesagt, dass Demokratien stets frei entscheiden dürfen, zu welchen Bündnissen sie gehören wollen, aber gemeint haben wir Unumkehrbarkeit, weil sich das Investment am Ende vor allem für uns lohnen muss.

  3. Drittens könnte sicherheitspolitisch die Ukraine durch einen NATO-Beitritt oder bi- und multilaterale Sicherheitsgarantien, die einer Rückversicherung gemäß Artikel 5 des NATO-Vertrags gleichwertig sind, die Abschreckung und Verteidigung vor Russland gewährleisten.

    Hey, ihr habt zwar verloren, bleibt aber unser erster Ansprechpartner im Kampf gegen Russland. Es ist doch toll, wenn es Länder gibt, die für uns mit ihren Soldaten in den Krieg ziehen.

Kurz: Souveränität und Wohlstand, abgesichert durch die unumkehrbare Verankerung in euro-atlantische Strukturen, könnte für Kiew eine Möglichkeit sein, den Krieg unter Bedingungen einzustellen, die bislang inakzeptabel schienen. Gleichzeitig muss klar sein, dass die Annexion der besetzten Gebiete nicht anerkannt wird.

Hier offenbart sich endlich ein politisches Ziel: Die Ukraine soll auf ewig an den Westen und die USA gebunden („Neutralität ist für Kiew keine Lösung“) und gleichzeitig weiterhin kampfbereit sein, da aus Sicht der Expertinnen klar zu sein scheint, dass jede Kampfpause lediglich eine Regenerationspause für die russischen Streitkräfte ist. Für wen ist das jetzt akzeptabel?

Für den Westen zählt nur der Westen und die Feststellung, dass Russland durch so einen Deal gescheitert ist. Es gilt immer noch: Das Investment darf nicht umsonst gewesen sein. Fraglich ist allerdings, ob es eben nicht auch einen anderen Deal geben könnte und zwar dergestalt, dass Trump in Amerika Präsident würde und gegenüber der Ukraine auf ein Ende der Kampfhandlungen zu den Bedingungen Russlands hinwirken könnte. Jetzt kommen plötzlich die europäischen Interessen ins Spiel. Also nicht Demokratie, Menschenrechte und das ganze Zeug, das in Afghanistan zu installieren, auch verfolgt worden war.

Für den Westen ist alles schlimmer

Nein. Die Erkenntnis ist wirklich bahnbrechend und trieft nur so vor Ignoranz. Dass die Ukraine den Krieg verliert, ist schlimm, aber noch viel schlimmer sind die Folgen für EU und NATO.

EU und NATO würden aus dem Krieg geschwächt hervorgehen. Sie müssten noch mehr in ihren eigenen Schutz investieren. Aus einer zerstörten und in Teilen russisch besetzten Ukraine kämen Millionen Flüchtlinge nach Westeuropa. Russlands Führung sähe sich bestätigt – auch in der Überzeugung, dass Kriegführen nicht nur legitim, sondern auch effizient ist. Andere Länder könnten schlussfolgern, dass sie auch durch Krieg ihre Ziele erreichen, Grenzen mit Gewalt verschieben und gegebenenfalls Atomwaffen zur Absicherung von Eroberungskriegen nutzen können. Gerade für ein Land wie Deutschland, das von weltweit funktionierenden Rohstoff-, Waren- und Finanzströmen abhängt, könnte eine Welt, in der das Recht des Stärkeren internationales Recht aushebelt, eine normative und wirtschaftliche Katastrophe werden.

Warum hat man es dann eigentlich erst zum Krieg kommen lassen? Gab es keine Abwägung dieser Folgen, nachdem Russland im Dezember 2021 und im Januar 2022 deutlich machte, dass es die Ablehnung von Verhandlungsangeboten über zentrale Sicherheitsfragen durch den Westen nicht unbeantwortet lassen würde? Hatten die westlichen Staatschefs, allen voran Biden und Scholz, nicht Russland davor gewarnt, in die Ukraine einzumarschieren? Sie hatten dieses Szenario doch offensichtlich auf dem Schirm, hätten also abwägen können, taten es vielleicht auch, verschätzten sich dann aber fundamental in der Wirkung ihrer bereits in Stellung gebrachten Gegenmaßnahmen. Wieso wird jetzt behauptet, Putin wolle ja gar nicht verhandeln, sondern nur dann, wenn er spüre, dass er den Krieg verliert, was allerdings im Widerspruch zur Behauptung steht, er verfolge ein imperiales Projekt?

Warum bot Putin vor dem Ausbruch des Krieges Gespräche an und warum wies der Westen (hier: die USA) das zurück oder machte sich lustig (hier: Europa)? Kanzler Scholz witzelte in Moskau über den strittigen Punkt einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. Das stünde ja gar nicht auf der Tagesordnung und werde es auch nicht, solange Scholz und Putin im Amt seien, wobei Scholz nicht genau wisse, wie lange Putin noch im Amt bleiben wolle. Warum gab es nach Ausbruch des Krieges und einem schnellen Vormarsch der russischen Truppen Verhandlungen zwischen den beiden Kriegsparteien? Stand Russland etwa am Rande einer Niederlage und war bereit, seinen Imperialismus (sic!) zu begraben? Die Narrative passen nicht zusammen. Was aber passt, sind Selbstgerechtigkeit und Überheblichkeit.

Im Falle der Ukraine wird Anteilnahme geheuchelt, entscheidend aber bleiben die Auswirkungen auf den Westen. Es kämen Millionen Flüchtlinge, wird befürchtet, die wahrscheinlich, so die Logik, gar nicht kämen, wenn die Ukraine weiter Waffen erhielte und ihren Job erledigte. Also Russen töten und dabei selber sterben. So lässt es sich im Westen offenbar gut und gerne weiterleben. Es wäre eine Katastrophe, wenn das Recht des Stärkeren über das internationale Recht triumphieren würde. Dabei ist mit dem internationalen Recht eine regelbasierte Ordnung gemeint, also eine westliche Variation dessen, was man als Recht des Stärkeren sofort erkennt, wenn man es nicht regelbasierte Ordnung nennt. Schaut man auf andere Konflikte, zählt das internationale Recht angesichts von Zerstörung, Mord und Vertreibung nicht viel. Diesen Umstand auszublenden, gehört aber zu der zur Schau getragenen Doppelmoral.

Bemerkenswert auch die Erkenntnis, dass Deutschland ja abhängig von Ressourcen und Handel ist. War die Einschätzung also falsch, man könne sich irgendwie davon lösen? Ist diversifizieren in Wirklichkeit nur eine unbrauchbare Beschreibung für den Austausch von Abhängigkeiten, die sich rein kostenmäßig auch noch zum veritablen Nachteil für die deutsche Wirtschaft entwickelt haben? Und was folgt daraus? Ein Land wie Deutschland wird eben auch mit Despoten und Verbrechern immer wieder reden müssen, genau wie mit Freunden, die einem offenbar die kritische Infrastruktur nach einem Saufgelage im Tauchanzug wegsprengen und hinterher fröhlich posten, wo sie denn als nächstes in den Urlaub fahren.

Man kann das natürlich alles „Die Verantwortung des Westens für die Zukunft der Ukraine nennen“. Man kann es aber auch als das bezeichnen, was es ist. Ein Unfall beim globalen Denken.


Bildnachweis: Screenshot, Magazin Internationale Politik, Artikel: „Die Verantwortung des Westens für die Zukunft der Ukraine“, 23. August 2024

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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