Wo ist das neue deutsche Wirtschaftswunder, das der Kanzler vor über einem Jahr und zuletzt vor der Einigung der Ampel im Haushaltsstreit angekündigt hat? Am vergangenen Mittwoch veröffentlichte wie üblich die Bundesagentur für Arbeit ihren Monatsbericht. Die Kernbotschaft: Die schwächelnde Konjunktur belastet den Arbeitsmarkt und eine Trendwende ist derzeit nicht in Sicht. Der Anstieg der Arbeitslosenzahlen sei „in dieser Dimension nicht üblich“, sagte Vorstandsmitglied Daniel Terzenbach. Und die Einigung beim Haushalt mit angeblich eingebautem Wachstumsturbo ist auch schon wieder dahin, bevor der Bundestag über die Vorlage des Kabinetts beraten konnte. Und das Ausland wundert sich, während hierzulande eine sinnbefreite Debatte über das Bürgergeld tobt. Deutschland rutscht immer tiefer in die Krise.
Einst warnten Nobelpreisträger: Lindner sollte nicht Finanzminister werden. Doch an ihm allein liegt es natürlich nicht. Es war von Anfang an ein Fehler, die Gründungsakte der Ampelkoalition ohne eine Klärung der Schuldenfrage zu unterschreiben. Man einigte sich darauf, die Sache auszuklammern, entdeckte dann Mechanismen, die es erlaubten, mehr Geld für Ausgaben einzuplanen, ohne woanders zu sparen und gleichzeitig nicht gegen die Schuldenbremse zu verstoßen. Dummerweise entschied man sich im laufenden Kriegs- und Krisenjahr 2023 fahrlässig dafür, auf eine weitere Feststellung einer Notlage zu verzichten, um, wie es der Finanzminister formlulierte, zur finanzpolitischen Normalität zurückzukehren. Doch normal war dann gar nichts mehr, wie das Bundesverfassungsgericht feststellte. Das bekannte Urteil zum zweiten Nachtragshaushalt 2021 sorgte dafür, dass die Ampel auch für 2023 noch einmal die Schuldenbremse aussetzen musste, um den laufenden Haushalt rechtlich abzusichern.
Die Rechtslage ist das Problem
Nicht der Haushalt ist das Problem, sondern die Rechtslage. Sie lässt kein ökonomisch vernünftiges Handeln zu. Das zeigt sich insbesondere dann, wenn der eine Teil der Regierung für eine strikte Einhaltung der Schuldenbremse ist und demnach immer wieder auf verfassungsrechtliche Bedenken hinweist, sogar dann, wenn der Staat lediglich versucht, seine ebenso verfassungsrelevanten Aufgaben zu erfüllen. Auch wenn immer wieder der Eindruck erzeugt wird, man könne sich bestimmte Ausgaben einfach sparen, so geht das an der Realität vorbei. Weitere Kürzungen in einem notorisch unterfinanzierten System vornehmen zu wollen, ist schwierig. Sie schon als Kürzungen zu bezeichnen, fällt nicht mehr so leicht. Der Finanzminister möchte lieber von „Maßnahmen zur Stärkung der Treffsicherheit der Sozialausgaben“ sprechen. Das Elend muss schließlich einen positiven Anstrich haben. So ist es aber nicht, vor allem dann nicht, wenn die wirtschaftliche Flaute anhält und der Bedarf an öffentlichen Leistungen somit eher zu- als abnimmt.
Man wende Milliarden Euro auf, um Menschen zu unterstützen, die nicht arbeiten, sagt der Finanzminister und erhält dabei Zustimmung von der Opposition. Das heißt, viele würden einfach nicht arbeiten, obwohl sie es doch könnten und stattdessen lieber staatliche Leistungen beziehen. Dass die Zahl der Arbeitslosen aber seit einiger Zeit beständig steigt, gleichzeitig die Zahl der offenen Stellen beständig sinkt, wie der jüngste Arbeitsmarktbericht noch einmal deutlich beschreibt, bereitet dem Minister und seinen Claqueuren von der Union dagegen nur wenig Kopfzerbrechen. Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit war für sie immer nur ein Kampf gegen die Arbeitslosen, weil die ihre Lage offenbar selbst zu verantworten haben. Einen Auftrag zu einer aktiven Beschäftigungspolitik erkennen sie aus den niederschmetternden wirtschaftlichen Kennzahlen nicht. Auch die groß angekündigte Wachstumsinitiative atmet den Geist der Sparpolitik. Der Wirtschaftswissenschaftler Peter Bofinger spricht im Handelsblatt daher von lediglich homöopathischen Anreizen.
Ebenso bleiben die geplanten Investitionen mit 59,7 Milliarden Euro in 2025 hinter dem zurück, was in diesem Jahr (70,8 Milliarden Euro) ausgegeben wird. All das zeige, dass die Priorisierung des Schuldenstands im wirtschaftspolitischen Handeln keine Spielräume für echte Wachstumsimpulse lasse, so Bofinger. Nun steht sogar der vor wenigen Wochen erzielte Kompromiss der Ampelspitzen durch Gutachten des wissenschaftlichen Beirates beim Finanzministerium wieder zur Disposition. Dort sind Wirtschaftsfachleute wie der Lindner-Berater Lars Feld offenbar der Auffassung, dass der Entwurf der Regierung rechtlich problematisch sein könnte, während die eigentlichen Rechtsexperten, die mit einer juristischen Begutachtung beauftragt waren, das wiederum nicht so sehen.
Die Liberalen brauchen einen Erfolg
Da fasst man sich an den Kopf und fragt sich, ob hier erneut die Wissenschaft politisch instrumentalisiert werden soll. Denn die Wirtschaftswissenschaftler sollten eine ökonomische Prüfung vornehmen und weniger eine Rechtsauffassung formulieren, was sie aber taten, wenn man die Interpretation der Ergebnisse durch den Finanzminister betrachtet. Lindners Einschätzung war auf jeden Fall nicht abgestimmt mit dem Rest der Regierung, wo man die Ergebnisse dann auch anders bewertet. So drängt sich der Verdacht einer Gegenposition auf, die der Finanzminister wohl als notwendig erachtete, nachdem die Vorschläge zum Haushaltskompromiss, wie allenthalben betont wird, aus dem Kanzleramt stammten.
Im Kern geht es darum, wie neue Schulden oder alte Kreditermächtigungen so verbucht werden können, dass sie nicht den Vorgaben der Schuldenbremse unterliegen, was, je länger man darüber nachdenkt, schon grotesk genug ist. Wenn die Schuldenbremse selbst die spärlichen Spielräume einengt, die gerade einmal für homöopathische Anreize und ein Miniwachstum reichen, dann ist sie offenkundig disfunktional und gehört reformiert oder ganz abgeschafft. Politisch geht es allerdings darum, den nächsten Wahlkampf nicht aus den Augen zu verlieren. Und dafür brauchen die Liberalen einen Erfolg, der sich beim Untergang der Ampel herzeigen lässt. Die Union macht schließlich vor, wie sich mit Kampagnen gegen Bürgergeldempfänger oder den Sozialstaat ganz allgemein wieder Zustimmung erzeugen lässt. Dabei hat das Bundesverfassungsgericht auch entschieden, dass der Staat beim Existenzminimum eine Verpflichtung hat, die er unter keinen Umständen mehr unterschreiten darf.
Aber das und die miesen wirtschaftlichen Daten interessieren vor den Landtagswahlen im September (Sachsen, Thüringen und Brandenburg) offenbar kaum. Die Liberalen drohen aus zwei weiteren Landesparlamenten herauszufliegen. Da will der FDP-Chef natürlich nicht mit Haushaltstricks in Verbindung gebracht werden, sondern als jemand aus dem Amt scheiden, der als einziger gut regiert habe, obwohl es doch besser gewesen wäre, als Ampel nicht zu regieren.
Bildnachweis: Screenshot BPK, 5. Juli 2024
AUG
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.