Das Magazin Mulitpolar hat die RKI-Protokolle in einer geschwärzten Version freigeklagt und setzt die juristische Auseinandersetzung fort, um auch den Rest sichtbar zu machen. Aber schon jetzt belegen die Schriftstücke zweierlei. Zum einen die Diskussion innerhalb der Behörde, die sehr viel kontroverser war, als bislang öffentlich dargestellt, und zum anderen, deren Abhängigkeit vom Ministerium, dem sie unterstellt ist. Die Coronapolitik war eine Politik. Mit Wissenschaft hatten die Maßnahmen nie etwas zu tun.
Im Gegenteil. Die Politik nutzte vielmehr eine Art wissenschaftlichen Anschein, um Grundrechte einzuschränken und fand dazu auch Akteure aus der Wissenschaft, die bereit waren, dabei mitzumachen. Wissenschaftler wie der Soziologe Heinz Bude etwa, der am Strategiepapier des Innenministeriums mitschrieb und inzwischen offen zugibt (hier und hier), wissenschaftliche Aussagen erfunden zu haben, um eine Folgebereitschaft in der Bevölkerung zu erreichen. „Wir haben gesagt, wir mussten, wir müssen ein Modell finden, um Folgebereitschaft herzustellen, das so ein bisschen wissenschaftsähnlich ist.“
Die Begründungen für die Maßnahmen sollten also nicht wissenschaftlich sein, sondern nur so wirken. Allein das ist schon ein Skandal, kommt aber nicht überraschend, da, wie schon so oft auch an dieser Stelle angemerkt, die reine Logik vielen Thesen fundamental widersprach. Überraschend ist auch nicht, dass das RKI als weisungsgebundene Behörde eben kein unabhängiges und nur auf die Wissenschaft fokussiertes Gremium ist. Bereits während der Pandemie ist dessen ehemaliger Chef Lothar Wieler von der Zeit danach gefragt worden, warum denn keine Kohortenstudien gemacht würden, die mehr Wissen über das tatsächliche Verhalten des Virus hätten erbringen können. Darauf antwortete Wieler, dass man das gern intensiver machen würde, die Finanzierung durch den Gesetzgeber aber unzureichend sei.
Dass also die Politik sagt, wo es langgeht und damit auch bestimmt, was die Wissenschaft an Ergebnissen liefern kann, ist keine Überraschung. Unbegreiflich hingegen ist, mit welcher Überzeugung in der öffentlichen Auseinandersetzung immer wieder behauptet wird, es sei doch ganz anders. Es wird also unterstellt, die Wissenschaft sei aus sich selbst heraus unabhängig und erhaben. In Wirklichkeit ist sie es nicht, wenn ein wesentlicher Bestandteil der Arbeit darin besteht, Drittmittel einzuwerben, auch von Unternehmen und privaten Organisationen, die in der Regel nicht das Wissen der Menschheit steigern wollen, sondern an Erkenntnissen interessiert sind, die ihnen nutzen, die also eine Rendite oder einen Gewinn für das eingesetzte Kapital versprechen.
Auch dieser Zusammenhang ist während der Pandemie viel zu wenig thematisiert worden oder allenfalls als Abwehr gegen Wissenschaftler, die dem gängigen Narrativ gelegentlich widersprachen, wie etwa Hendrik Streeck, dem ein TV-Kasper vorwarf, Interessenkonflikte zu haben, weil er sich die Heinsberg-Studie von einer PR-Agentur fördern ließ. Dass aber auf der anderen Seite auch der unantastbare Säulenheilige der Wissenschaft mit einem wöchentlichen Podcast im NDR maximale Öffentlichkeitsarbeit in eigener Sache betreiben durfte, interessierte dagegen kaum. Man überreichte sich in vertrauter Runde schließlich auch Preise, um jene Anerkennung zu bekräftigen, die in der Gesellschaft schon längst zu erodieren begann. Dabei galt der kategorische Imperativ: Wer „Ahnung“ hat, ist über jede Kritik erhaben.
Die andauernde Kränkung
Nun kommt die Aufarbeitung der Coronapolitik mit den RKI-Files vielleicht mehr als bislang ins Rollen. Wünschenswert wäre es, nachdem Politiker, die Verantwortung trugen, Fehler – wenn auch nur unzureichend – bereits eingeräumt haben. Gleichzeitig besteht die Gefahr, aus einem Zustand der andauernden Kränkung heraus in die andere Richtung maßlos zu überziehen und so den Konflikt zwischen den extremen Positionen von Neuem anzufachen. Es gilt also zu bedenken, was denn das Ziel von Aufarbeitung sein soll. Die Überwindung gesellschaftlicher Gräben oder eine schonungslose Abrechnung mit den Verantwortlichen. Es geht also am Ende auch um die Frage, ob man es erträgt, dass die Transparenz um die Vorgänge während der Pandemie vielleicht ohne große Konsequenzen bleibt.
MRZ
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.