Wenn der Befund der sogenannten Experten lautet, der Westen unterstütze die Ukraine nicht ausreichend und habe auch nicht vor, mehr Anstrengungen zu unternehmen, nicht zuletzt, weil es einen direkten Konflikt mit Russland zu vermeiden gelte, dann ergab es rein denklogisch auch nie einen Sinn, die Ukraine kämpfen zu lassen. Die Ukraine entscheide als angegriffenes Land darüber allein, heißt es trotzig zur Erwiderung. Aber auch das ist bestenfalls naiv. Denn sollten die Amerikaner ihre Unterstützung einstellen, droht eine Neuauflage des Afghanistan-Szenarios.
Kurzer Rückblick: Über 20 Jahre lautete die Devise, dass Deutschland am Hindukusch verteidigt würde. Doch am Ende ging es ganz schnell. So schnell, dass die Krökeltische aus den Unterkünften der Soldaten nicht mehr mitkamen. Menschen, die sich an Flugzeugen in Kabul festklammerten und vom Himmel fielen. Zurückgelassene Ortskräfte, die um ihr Leben bangten. Alles Eindrücke und Bilder, die unmittelbar vor dem Ukraine-Desaster entstanden und deutlich machten, wie hohl das Gerede über Werte, die es zu verteidigen gilt, ist und wie sinnlos dieser lange Einsatz im Ergebnis gewesen war. Am Ende ergriffen die Europäer überstürzt die Flucht und überließen die Helfer ihrem Schicksal.
Das glorreiche Expertentum
Und nun, verteidigt die Ukraine die europäischen Werte und die Demokratie. Das ist eine Wiederholung dieses wohlfeilen Geplappers, um die Fortsetzung eines Krieges zu rechtfertigen, den der Westen nicht verhindert hat. Dabei soll das moralisierende Auftreten, das Leid wieder nur instrumentalisiert und damit heuchelt, eine fehlende politische Strategie ersetzen und viel Geld, das trotz Haushaltskrise vor Kürzungen geschützt zu sein scheint, die immer höheren Kosten ausgleichen. Das wird eine Regierung, die bereits bei der Abschaffung des Dieselprivileg für Landwirte gehörig unter Druck gerät, keinesfalls durchhalten können.
Sollten die Amerikaner zurückweichen, werden auch die Deutschen unter dem lauten Geheul ihrer kriegsverliebten Sofageneräle den Rückzug antreten müssen. Dass es so kommt, zeigt ja bereits das glorreiche Expertentum, das einst ganz siegesgewiss Propaganda betrieb, nunmehr in einschlägigen Gazetten Horrorszenarien ausbreitet, für den Fall, dass Russland diesen Krieg gewinnt. Das soll wohl dabei helfen, in Deutschland eine Stimmung für den albernen Plan einer mittelfristig herzustellenden Kriegstüchtigkeit zu erzeugen.
Das ist nur schon wieder tragikomisch. Denn hätte das arrogante Idiotentum unter den Professoren, die ihren Lehrauftrag offenbar nur in Talkshows und auf Twitter/X wahrnehmen, vorher nicht lieber empfehlen sollen, die Panzer zu behalten, statt sie in der Ukraine zu entsorgen, wo sie den gegnerischen Truppen als Motivationshilfe und Trophäen dienen? Außerdem ist nicht ganz klar, wie der Russe, der nach seriösen Modellberechnungen aus der Schweiz den Krieg strategisch schon längst verloren hat, wiederum in der Lage sein soll, eine Bedrohung für NATO-Länder darzustellen, die doch geschützt sind, weil sie dem Bündnis angehören, was nach Meinung derselben Experten übrigens auch der Ukraine geholfen hätte, von Russland nicht überfallen zu werden.
Abschreckung ist eine Schimäre
Während die Taliban im Camp Marmal irritiert neben Billardtischen stehen und Hanteln für die westlichen Fotografen stemmen, dürften die Russen eher unbeeindruckt auf Ankündigungen reagieren, die eine deutsche Kriegstüchtigkeit in fünf bis acht Jahren in Aussicht stellen. Das wäre ja schneller als der Bau eines Berliner Flughafens und damit vollkommen unrealistisch. Aber Spaß beiseite. Abschreckung ist eine Schimäre, das war auch schon zu Zeiten des Kalten Krieges so. Da wird ja behauptet, dass es aufgrund der atomaren Arsenale eine Art Gleichgewicht des Schreckens gegeben habe, das zu einem Ausschluss konventioneller militärischer Gewalt beitrug. Das ist falsch. Statt im Zentrum fanden die heißen Kriege eben an der Peripherie statt. Entspannung gelang nur durch Diplomatie und auf der Grundlage des Konzepts Wandel durch Annäherung.
Doch das Anerkennen von gegenseitigen Sicherheitsinteressen hat man mit dem Fall des Eisernen Vorhangs in die Tonne getreten. Jetzt rücken die heißen Konflikte zunehmend ins Zentrum, quasi vor die eigene Haustür und es wird so getan, als ließen sich durch Abschreckungskonzepte die alten Verhältnisse wieder herstellen. Aber das wird nicht gelingen. Die NATO hat Finnland als neues Mitglied aufgenommen, Schweden wird wohl noch folgen. Das geschah, weil man sich davon mehr Sicherheit und Abschreckung versprach. Das Gegenteil ist aber der Fall. Die Sicherheitslage hat sich verschlechtert und glaubwürdige Abschreckung ist zweifelhafter denn je, da eine längere Grenze nicht nur in die eine, sondern auch in die andere Richtung wirkt.
So wird die NATO ständig zeigen müssen, etwa durch riesige Manöver, dass sie in der Lage ist, das erweiterte Bündnisgebiet zu verteidigen. Jedoch gelingt es beispielsweise Deutschland schon nicht, seinen zugesagten Verpflichtungen im Baltikum nachzukommen (sowie hier und hier). Lust auf Kriegstüchtigkeit hat ohnehin niemand, am wenigsten die Anhänger der Grünen, was nicht einer gewissen Ironie entbehrt.
Wenn es nur Sozialdemokraten gebe
Die Folge ist, dass die Abhängigkeit vom US-Militär immer größer und das Vertrauen in die eigene Verteidigungs-, Kriegs- oder Abschreckungsfähigkeit immer kleiner wird. Schon allein deshalb wirkt die Ankündigung nach deutscher Kriegstüchtigkeit bloß wie ein groteskes Imponiergehabe ohne sonderliche Substanz, weil der Verteidigungsminister, der wohl gern auch Kriegsminister wäre, offenbar gar nicht begriffen hat, dass wirtschaftliche Stärke die Voraussetzung militärischer Drohkulisse ist. Das heißt, er müsste zunächst den Zugang zu billiger russischer Energie sicherstellen und für einen Ausbau des Handels mit China werben, um zu dem Zustand der wirtschaftlichen Stärke zurückzukehren, die es ihm erlaubte, militärisch glaubwürdig die Muskeln spielen zu lassen.
Nur würde er dann auch feststellen, dass eine Strategie der Konfrontation ja völlig unnötig ist. Wenn man nur Sozialdemokraten hätte, die könnten das noch wissen. Stattdessen demonstrieren SPD-Vorsitzende und Kriegsminister lieber verbale Entschlossenheit, machen sich aber gleichzeitig in die Hose für den Fall, dass die Amerikaner andere Prioritäten setzen.
Dass die NATO-Osterweiterung keinesfalls in deutschem Interesse liegt und Folgen haben würde, war lange bekannt. Sie ist damit gerade kein Garant für Frieden, sondern, wie der Krieg in der Ukraine zeigt, ein Sicherheitsrisiko für Europa, in dem die Weltmächte bereits in den 1980er Jahren einen begrenzten atomaren Konflikt für akzeptabel hielten. Damals gab es aber noch eine Bundesregierung, die sich dagegen wehrte und erkannte, dass solche Szenarien nicht im Interesse Deutschlands oder Europas sind. Heute lässt es ein Bundeskanzler mit Erinnerungslücken achselzuckend zu, dass jemand die Energieinfrastruktur Deutschlands zerstört. Das Interesse an Aufklärung ist gering, dafür die Überzeugung groß, dass Russland den Gashahn bis heute einfach zugedreht habe, wie man hier und hier nachlesen kann.
Bildnachweis: Screenshot, ZDF Spezial, 16. August 2021.
DEZ
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.