In der Slowakei werden bei den Parlamentswahlen die Sozialdemokraten (Smer) unter Robert Fico überraschend stärkste Kraft. Die Partei sieht einiges anders, unter anderem die Waffenhilfe für die Ukraine. Schuld an dem Ergebnis sei nun aber nicht die Demokratie, sondern Desinformation im Wahlkampf. Experten zufolge falle etwa die Hälfte der 5,4 Millionen Einwohner auf Falschinformationen herein, heißt es in einem Bericht. In Kanada jubeln Parlament und Premierminister einem Nazi-Opa zu, der es überhaupt nicht bereut, zur Waffen-SS gehört zu haben. Das ist nicht nur eine Peinlichkeit, sondern ein Skandal. Im Nachhinein entschuldigt sich der Regierungschef Justin Trudeau zwar, garniert das aber sogleich mit Bemerkungen über russische Desinformation. Für alle unliebsamen Entwicklungen sowie die eigenen Fehler werden umgehend Russland oder von Russland beeinflusste Rechts-, wie Linksextremisten, auf jeden Fall irgendwas mit Populisten, verantwortlich gemacht, die die Bürger manipulieren. Ein Armutszeugnis.
Glenn Greenwald bringt dieses Verhalten auf Twitter/X wie folgt auf den Punkt.
Oh, wow – who could have guessed? If a Western leader stubs their toe, it’s the Kremlin’s fault.
„Wahlen ändern nichts, sonst wären sie verboten“, sagte Kurt Tucholsky einst. Und wenn sie doch etwas ändern, ist russische Desinformation daran Schuld, so könnte man das bekannte Zitat um die zeitgenössische Auffassung von Demokratie im Westen erweitern. Denn die versteht sich schon längst nicht mehr als eine Form des politischen Wettbewerbs, dessen wesentliche Grundlage im friedlichen Übergang der Macht besteht, sondern als etwas, das genau das mit viel vorgetragener emotionaler Betroffenheit zu verhindern sucht. So werden Wahlen nicht mehr als Bereicherung wahrgenommen, sondern fortlaufend als Bedrohung für die Demokratie betrachtet, weil da immer häufiger Parteien gewählt werden, die dem moralisierenden Meinungsmainstream nicht gefallen.
Demokratieverachtung im Empörungstheater
Vor ein paar Wochen saß mit Michael Roth einer dieser unsäglichen und auf Twitter/X sehr aktiven Politiker bei Markus Lanz und sprach von Demokratieverachtung einiger Wähler, weil die so wählen, wie sie wählen. „Warum ist das eine Geringschätzung der Demokratie, wählen zu gehen und eine Partei zu wählen, die Ihnen nicht passt“, fragte daraufhin die Journalistin Anne Hähnig. Roth antwortete, dass die AfD in Thüringen nicht irgendeine rechtspopulistische Partei sei. Sie werde vom Verfassungsschutz als durchgängig rechtsextrem eingestuft. Und rechtsextreme Parteien wählt man halt nicht, so die gedankliche Fortsetzung des Demokratiefreundes, der nicht als intolerant wahrgenommen werden möchte. Die Journalistin antwortete wiederum: „Ich finde, Sie stellen es so dar, als würde sich das ganze Land immer nur über AfD-Wähler beugen und fragen: ‚Was fehlt euch denn? Warum geht’s euch nicht gut?‘ Ich finde, da blenden Sie was aus.“
Da liegt sie absolut richtig. Ein Grund für den stetigen Erfolg der AfD ist auch das ständige Empörungstheater über sie, gerade von Leuten wie Roth, die gar nicht merken, dass ihre permanente Aufregung nicht einmal mehr wirkungslos verpufft, sondern direkt auf das Konto der Rechtsextremisten einzahlt. Das ist sowieso immer dann der Fall, wenn man eine inhaltliche Auseinandersetzung meidet und diese lieber durch viel moralische Haltung ersetzt wissen will. Das geht den Wählern dann einfach nur noch auf den Wecker. Sie wollen nicht durch Predigten gelangweilt oder belehrt, sondern vielmehr von Lösungen überzeugt werden. Dass die Rechten dabei überhaupt nichts anzubieten haben, spielt so lange keine Rolle, wie die anderen Parteien auf eine nachvollziehbare Politik verzichten oder sie um ein paar Ecken herum im Prinzip genauso betreiben, wie es die Rechten ohne Anstand und Filter längst hinausposaunen.
„Ausländerfeindlichkeit allein reicht eben nicht, man muss auch wissen, wie es geht“, spottete Küppersbusch vergangene Woche. Was er damit meinte, die seltsame Debatte zwischen den aufrechten Demokraten in Bund und Ländern, wie sie über die Finanzierung der Flüchtlingshilfe streiten. Denn bislang ist von den versprochenen Bundesmitteln noch kein Cent an die sich immer lauter beschwerenden Kommunen geflossen. Die haben trotzdem Flüchtlinge unterzubringen und zu versorgen, müssen also Unterkünfte vorhalten, wenn es keine Sporthallen sein sollen, und natürlich Personal, das sich dann auch um die Menschen kümmert. Vorläufiges Fazit: SPD und Grüne versprechen Gelder, die nicht ankommen, weil es sie nicht gibt. Das freut wiederum die Union, die das Elend der Kommunen nutzt, um wieder Obergrenzen zu fordern und fehlende Termine für Deutsche bei Zahnärzten anzuprangern, während die FDP komplizierte Gesetzgebungsprozesse beschreibt, um zu erklären, warum alles so lange dauert.
Mit anderen Worten: die demokratisch legitimierte Ausländerfeindlichkeit wollen sich die empörungsaffinen Moralisten nicht von den erklärten Ausländerfeinden einfach so wegnehmen lassen. Doch der Wähler durchschaut das möglicherweise ganz gut und wendet sich gleich dem Original zu. Dabei ist die Lösung, die Leute wie der emotional hyperventilierende Michael Roth nicht anzubieten haben, ganz einfach. Man muss dazu aber wieder ins Ausland schauen, um den entsprechenden Hinweis zu bekommen. Der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze hat einen bemerkenswerten wie einleuchtenden Artikel in der Financial Times geschrieben. Er trägt die Überschrift: Germany must invest to neutralise the far-right threat. Zunächst einmal stellt er fest, dass eine Kombination von Sparmaßnahmen und Massenmigration ein Rezept für Fremdenfeindlichkeit ist. Das erklärt er nicht einfach so, sondern stützt sich auf die Erfahrung aus dem Vereinigten Königreich. Deutschland als immer noch verspätete Nation könnte diese Erfahrung nutzen, um daraus zu lernen.
Das Ausgeblendete einblenden
Damit eine liberale Migrationspolitik funktioniert und gefährliche Konflikte um Wohnraum und soziale Dienstleistungen vermieden werden, sind öffentliche Investitionen unerlässlich, sagt Tooze. Hier habe Deutschland aber versagt. Seit über 20 Jahren bleiben die öffentlichen Investitionen und der Wohnungsbau weit hinter den Erwartungen zurück. Mit der Schuldenbremse habe sich dieser Trend noch einmal verschärft. Das führe wiederum zu echten Engpässen in den Bereichen Wohnraum, Bildung und Sozialfürsorge, was Konflikte letztlich fördere, von denen wiederum die Rechten profitieren. Das sind verständliche Ursachen, die wohl mit „Ausblenden“ gemeint sind. Die Regierung macht Fehler und dafür dann wahlweise Rechtsextremisten oder Russland verantwortlich. Das steigert sich bis hin zur Beschimpfung von Wählern, denen unterstellt wird, die Demokratie zu verachten und auf Desinformation hereinzufallen.
Die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute haben ihre Prognose für die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts gegenüber der Einschätzung vom Frühjahr um 0,9 Prozentpunkte auf minus 0,6 Prozent gesenkt. Eine Randnotiz, gemessen an der Aufregung um Wahlergebnisse in der Slowakei oder die kurzfristige Einigung über den Haushalt der USA, der keine Ukrainehilfen mehr vorsieht. Die wirtschaftlichen Aussichten müssten eigentlich ganz oben stehen und die Frage diskutiert werden, welchen Anteil die Ampelregierung an dieser Entwicklung hat und was getan werden könnte, um den Trend umzukehren. Stattdessen bekommt man aber, wie etwa auf tagesschau.de, den ARD-DeutschlandTrend mit der Frage serviert: Wie rechts denkt Deutschland? Oder es wird darüber berichtet, dass der Finanzminister die Klimaaktivisten mit der AfD vergleicht und sagt, dass deren Programme die deutsche Wirtschaft ruinieren würden, so als ob sie und nicht er Regierungsverantwortung trügen.
Bund und Länder dürften darüber hinaus an einer dauerhaften Finanzierung des Deutschlandtickets scheitern, während der schneidige Bundesverteidigungsminister teuer beschaffte digitale Funkgeräte vorerst einlagern muss, weil niemand an den Einbau gedacht hat. Etwa 1,35 Milliarden Euro wurden für rund 20.000 Funkgeräte bezahlt, der Kauf weiterer 14.000 Funkgeräte zum Preis von 1,52 Milliarden Euro ist fest vereinbart, dazu fallen Betriebskosten in den kommenden 20 Jahren von rund 2,2 Milliarden Euro an. Alles kein Problem, das Sondervermögen macht es möglich, auch wenn das derzeit keinerlei militärischen Nutzen bringt. Bei so viel zeitengewendeter Verschwendung sind die Mehrkosten für ein jetzt schon viel zu teures Deutschlandticket in Höhe von 1,1 Milliarden Euro einfach nicht drin. Ein Armutszeugnis.
Bildnachweis: Glenn Greenwald via Twitter/X
OKT
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.