Es sind derzeit keine rosigen Zeiten für Deutschland. Das angekündigte Wirtschaftswunder bleibt aus, die Bevölkerung verliert an Einkommen, Kaufkraft und Wohlstand, die Infrastruktur verlottert immer mehr, die Kosten steigen und Karl Lauterbach plumpst ins Sommerloch.
Bundeskanzler Olaf Scholz versprach im Frühjahr ein zweites Wirtschaftswunder. Nach zwei negativen Quartalen infolge, was übersetzt einer Rezession entspricht, stagniert die Wirtschaft nun im zweiten Quartal des laufenden Jahres. Statt neue Investitionen zu tätigen, wandern Unternehmen lieber ab, weil die Perspektiven und Subventionen anderswo viel attraktiver sind. Der Bundeswirtschaftsminister sieht zwar keinen Grund für „German Angst“, warnt aber vor der Deindustrialisierung des Landes. Er wäre daher für mehr Schulden, um beispielsweise einen Industriestrompreis zu finanzieren. Nur hätte er dann dem Haushaltsentwurf vor ein paar Wochen im Kabinett gar nicht zustimmen dürfen.
Selbstverschuldete Probleme
Die Bundesregierung hat keine Geschäftsgrundlage. Der Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP ist zwar lang, es fehlt aber ein Konsens darüber, wie die Finanzierung von Aufgaben erfolgen soll. Die unterschiedlichen Vorstellungen wurden bislang durch Sondervermögen zusammengehalten. Sie fallen nicht unter die Schuldenregel. Doch mehr als „militärische Austerität“ ist inzwischen nicht mehr drin. Zudem sind die wirtschaftlichen Probleme selbstverschuldet. Die hohen Energiepreise sind Folge einer unbedachten Sanktionspolitik, die mehr dem Absender als dem Adressaten schadet. Doch ein Umdenken findet nicht statt, obwohl billige russische Energie weiterhin Teil des Marktes ist und auch bleiben wird. Warum nur Deutschland darauf verzichten sollte, während andere – sogar die erbitterten Gegner Russlands in Osteuropa – diese Ressourcen weiter nutzen, ist zumindest erklärungsbedürftig.
Es hat auch wenig Sinn, in der Außenpolitik ausgerechnet da die Konfrontation zu suchen, wo die Abhängigkeit von globalen Lieferketten und Rohstoffen besonders hoch ist, vor allem wenn man bei der Energiewende im eigenen Haus vorankommen will. Die Vision von einer grünen Transformation wird durch unbedachte Äußerungen und Moralvorträge in Staaten wie China, die man auch noch als systemische Rivalen einsortiert, jedenfalls nicht realistischer. Es sei denn, man plant die höheren Militärausgaben dafür ein, um künftig Kriege um Rohstoffe führen zu können.
Selbstverschuldet ist auch eine zunehmend marode Infrastruktur und ein gigantischer Investitionsstau. Doch statt eines Konjunkturprogramms hört man nur von Vorgaben zur Einsparung von Ausgaben, weil Linke wie Liberale die irrige Annahme vertreten, dass der Staat nur das umverteilen könne, was er zuvor erwirtschaftet oder eingenommen habe. Das ist grundfalsch. Der Staat kann zu jeder Zeit seine Ausgaben erhöhen. Sogar die Schuldenbremse kann umgangen werden, wenn sich keine verfassungsändernde Mehrheit zu deren Abschaffung findet. Neben Sondervermögen, die per Definition nicht haushaltsrelevant sind, kann der Bundestag durch einfachen Beschluss die Schuldenbremse aussetzen, wie das unter Corona und zu Beginn des Krieges der Fall war. Dies könne auch mit Bezug auf das Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft von 1967 geschehen, das die Bundesregierung verpflichtet, auf ein gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht zu achten, also angemessenes Wirtschaftswachstum, Preisstabilität, hohes Beschäftigungsniveau und ein außenwirtschaftliches Gleichgewicht zu erreichen.
Als gesamtwirtschaftlich wird es völlig zurecht bezeichnet, weil es sich nicht auf einen einzelnen Sektor allein, z.B. den Staatssektor, konzentriert; als magisch gilt es, weil es in der Tat eine Kunst ist, allen vier Zielen zugleich gerecht zu werden.
Die Bedingungen zum Handeln sind längst gegeben. Das Bruttoinlandsprodukt stagnierte von April bis Juni, kommt aus dem Keller also nicht heraus. Der Internationale Währungsfonds prognostiziert daher für Deutschland einen Rückgang der Wirtschaftsleistung in diesem Jahr. Die Zahl der Arbeitslosen steigt bereits jetzt und auch die Unternehmensinsolvenzen nehmen zu. Ein rasanter Abstieg droht, wie Meldungen belegen und die Glaubwürdigkeit der Regierung wird nicht besser, wenn erst die Verteuerung von Energie betrieben wird, um sie dann mit einem Industriestrompreis wieder zu subventionieren.
Niemand hat etwas dagegen, Deutschlands Energiebezug zu diversifizieren. Aber die umgesetzten Energiesanktionen schaden hauptsächlich Europa (den Menschen und der Wirtschaft), nicht Russland, helfen der Ukraine nicht und nützen vor allem der US-Fracking-Industrie und allen Energiekonzernen, die wegen der gestiegenen Preise kräftig abgesahnt haben.
Ethische Flexibilität
Alles was es dafür braucht, ist jene ethische Flexibilität, zu der der Wertewesten immer dann greift, wenn es seinen Interessen nutzt. Deutschland bildet da keine Ausnahme, macht sich in seiner Besessenheit, Russland zum Dämon zu erklären, aber lieber zur Lachnummer. Denn es ergibt einfach keinen Sinn, bei der Energiepolitik die eine Abhängigkeit gegen eine andere zu tauschen und sich dann über „Mondpreise“ zu beschweren. Es ergibt auch keinen Sinn, den einen Schurken zu verdammen und den anderen als „zuverlässigen Energielieferanten“ im Kreis der Guten zu begrüßen. Wenn schon ethische Flexibilität, dann doch bitte so, dass den eigenen Leuten und Unternehmen kein Schaden entsteht. Den müsse man nun aber hinnehmen, weil in der Vergangenheit so viel schiefgelaufen sei.
Der Ökonom Peter Bofinger sagt, dass Deutschland vor sehr vielen Herausforderungen stehe. In der Klima-, Energie- und Industriepolitik oder beim Wohnungsbau gebe es viel zu tun. Das größte Problem sei jedoch, „dass wir in dieser Lage unser kleinstes Problem zur obersten Priorität erklären.“ Er meint damit die politische Festlegung, keine zusätzlichen Schulden zu machen. Sie bestimme alles andere und ist zugleich überhaupt nicht nachvollziehbar, weil Deutschland im Vergleich zu anderen großen Industrieländern die geringste Verschuldungsquote hat. Das schränke den Spielraum unnötig ein.
Wir haben dafür dieselben Möglichkeiten wie China, die USA, Frankreich oder Italien, nutzen sie aber nicht, weil die FDP in der Ampel eine andere Prioritätensetzung durchgesetzt hat. Also ja: In der Bundesregierung läuft etwas grundsätzlich falsch.
Wichtig ist, dass die gesamte Ampelregierung diesen Kurs unterstützt, also nicht allein die FDP für die falsche Prioritätensetzung verantwortlich ist. Das ist deshalb bemerkenswert, weil sich beispielsweise ein Robert Habeck im Interview mit den Tagesthemen so äußert, als hätte er nicht gerade dem Haushaltsentwurf der Bundesregierung im Kabinett zugestimmt. Hat er aber und sich damit auch bewusst für „keine Industrie mehr haben“ entschieden. Nun will er es so aussehen lassen, als sei die FDP und Finanzminister Lindner allein verantwortlich. Das mag nachvollziehbar sein, weil ihm dasselbe mit der Gasumlage passiert ist, für deren Scheitern er von seinen Koalitionspartnern verantwortlich gemacht wurde, obwohl die ganze Ampel sie einführen wollte und auch beschlossen hat.
Diese Vorgänge zeigen daher, dass die Bundesregierung keine brauchbare Geschäftsgrundlage hat. Sie agiert innen- wie außenpolitisch orientierungslos, weil schon am Anfang die wesentlichen Fragen unbeantwortet blieben oder ausgeklammert wurden. Das Ergebnis ist zunehmende Uneinigkeit, weil man schon zu viele Kröten hat schlucken müssen. Statt die Interessen des Landes zu definieren und diese auch zu vertreten, hat sich ein Festhalten an den Resten von identitätsstiftenden Leuchttürmen herausgebildet, um für die jeweils eigene Anhängerschaft noch erkennbar zu bleiben. Auf der anderen Seite schwindet damit die Bereitschaft zum Pragmatismus, der notwendig ist, um der Krise zu begegnen. Vom „Mehr Fortschritt wagen“ ist nicht mehr viel übriggeblieben, wohl nicht einmal der kleinste gemeinsame Nenner.
Bildnachweis: Screenshot des Koalitionsvertrages von SPD, Grünen und FDP.
AUG
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.