Der Begriff Zeitenwende hat derzeit Konjunktur. Er wird vielfach verwendet, zum Beispiel in der Verkehrs- und Energiepolitik. Die stärkste Verknüpfung besteht aber zur Verteidigungspolitik. Dort ist die Zeitenwende anhand von großen Zahlen sichtbar gemacht worden. Das 100 Milliarden Euro schwere Sondervermögen für die Bundeswehr, darüber hinaus die geplanten Aufwüchse im Haushalt des Verteidigungsministeriums, obwohl die Ampelregierung mit Verweis auf die Schuldenbremse die Ausgaben an allen anderen Stellen radikal kürzt. Das ist ein Rückfall in den deutschen Dogmatismus, der sich der ökonomischen Zeitenwende verschließt.
Es ist etwas im Busch. Immer weniger glauben noch an den berühmten Satz der Kanzlerin a.D. Angela Merkel, wonach das Land stärker aus einer Krise herauskommen werde, als es hineingegangen ist. Der aktuelle Kanzler Olaf Scholz meinte sogar, Deutschland werde ein neues Wirtschaftswunder erleben. Die Realität sieht anders aus. Deutschland verliert und zwar rasant, nicht nur an Wettbewerbsfähigkeit und Wirtschaftswachstum – die Rezession ist bereits da – sondern auch an Perspektiven. Außenpolitisch steuert es orientierungslos, weil die Regierung keine Vorstellung von deutschen Interessen hat. Das belegt unter anderem das seitenlange Geschwafel über eine neue China-Strategie, die man stark verwässern musste, um sie nicht zu sehr nach einer bloßen Umsetzung des aggressiven amerikanischen Kurses aussehen zu lassen. Den kann man sich in Europa aufgrund der Abhängigkeit von globalen Lieferketten auch gar nicht leisten.
China soll nun „Partner, Konkurrent und Systemrivale“ sein. Ein seltsamer Dreiklang, der nicht harmoniert. Statt Pragmatismus ist das ein neuer unauflösbarer Dogmatismus, der sich nur mit erheblicher Eierei und unter Inkaufnahme von Widersprüchen und Missverständnissen wird durchhalten lassen. Ein Verzicht auf China ist für die deutsche Industrie indes undenkbar. Sie hält nichts von einer Regierung und EU-Kommission, die offenbar mehr den USA gefallen möchten, als sich Gedanken über die langfristigen wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen Deutschlands und Europas zu machen. Die Abwanderung von Unternehmen ist da nur ein drohendes Szenario, das immer wahrscheinlicher wird. Das führt bereits zu politischen Reaktionen, vor allem da, wo ein Weggang der Industrie viele Jobs kosten und viel Schaden anrichten könnte.
Ein Anflug von Pragmatismus? Mitnichten. Kern des Positionspapiers der niedersächsischen Landesregierung ist zu einer Umverteilung der Lasten zu kommen, die neuen Konfliktstoff birgt. Kurz gesagt sollen die Bundesländer, die bisher beim Ausbau der Erneuerbaren kaum vorangekommen sind, höhere Kosten tragen als die Länder, denen das bereits gelungen ist. Also hohe Netzentgelte für den Süden, geringere für den Norden. Die Netzentgelte sollen wiederum aus dem Strompreis herausgenommen und über den Bundeshaushalt finanziert werden.
Ein Dilemma, denn erstens wird der Süden bei diesem Unterfangen nicht mitmachen und zweitens ist da noch ein Finanzminister, der mit Ausnahme für Verteidigung gar nichts von höheren Ausgaben hält und das Dogma Schuldenbremse wie eine Monstranz vor sich herträgt. Aber nicht nur er. Auch den Landesregierungen fällt nichts besseres ein, als zu sparen. Zum Beispiel bei der Städtebauförderung, die arg zusammengestrichen wurde oder beim Breitbandausbau und damit der Digitalisierung. Die einstigen Zukunftsthemen fallen aufgrund der angespannten Haushaltslage dem Rotstift zum Opfer. Ein weiterer Konflikt. Denn die Kommunen müssen es ausbaden, bekommen weniger Geld und müssen bis 2026 bzw. 2028 zudem eine Wärmeplanung vorlegen, deren Finanzierung ungeklärt bleibt.
Solange Fesseln wie die Schuldenbremse existieren und eine Regierung im Amt ist, die daran nichts ändern will, wird sich der Abwärtssog verstetigen. Beinahe täglich kommen Berichte herein, die zeigen, wie sich die geplante Kürzungspolitik im Alltag auswirkt.
Ausgerechnet die SPD plant nach der Sommerpause einen neuen Anlauf für den sozialen Pflichtdienst. Dieser solle Respekt im Umgang und ein stärkeres Miteinander im Land fördern. Und das, nachdem man die Mittel für Freiwilligendienste zusammengestrichen hat. Ein Pflichtdienst für SPD-Politiker, um zu lernen wie soziale Politik geht, wäre vielleicht sinnvoller. In jedem Fall sind die Vorschläge das Ergebnis eines Dogmatismus, von dem die deutsche Politik nicht lassen kann oder will. Dabei kritisieren selbst die arbeitgebernahen Institute inzwischen den eingeschlagenen Kürzungskurs. Stereotype Feststellungen, „wonach staatliche Schulden immer schlechte Schulden sind, ist ökonomisches Denken der Neunzigerjahre.“
Es braucht mehr öffentliche Schulden, aber nicht nur, um damit dringend benötigte Investitionen zu tätigen, sondern auch um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Unternehmen als quasi naturwüchsige Schuldner ausfallen. Sie sind weltweit schon länger zu Nettosparern geworden, brauchen also auch keine Steuersenkungen, um zu Mitteln zu kommen, die sie für Investitionen schon längst in ihren Büchern haben. Das ist die ökonomische Zeitenwende vor der sich Deutschland nicht verschließen darf. Der Staat muss die Rolle des Antreibers übernehmen. Schuldenbremse und Haushaltsdogmatik stehen dem im Weg. Amerika macht es besser und ist mit seinem Pragmatismus dem deutsch/europäischen Dogmatismus offenbar weit überlegen.
Eine neue Partei
Wem das bei den Präsidentschaftswahlen 2024 nutzt, ist offen. Europa steht jedenfalls vor einer weiteren Rechtsverschiebung. In Spanien könnte es nach der Parlamentswahl gestern einen Regierungswechsel geben. In Deutschland schwächelt die Ampel schon länger, die AfD gewinnt in Umfragen hinzu. In Thüringen wird sich die CDU im nächsten Jahr entscheiden müssen, mit welchem politischen Grundsatz sie brechen will, nie mit den Linken oder nie mit der AfD. Parallel dazu taucht bei den Demoskopen eine Liste Sahra Wagenknecht mit viel Potenzial auf. Sie könnte auf Anhieb stärkste Kraft werden.
Eine solche Partei abzufragen, die es noch gar nicht gibt, hat jetzt keinen großen Aussagewert. Es zeigt aber, dass viele Menschen, mit dem, was auf dem Wahlzettel steht, nichts mehr anfangen können. Es muss eine Regierung im Wartestand geben. Das ist das Urprinzip der Demokratie, das in Deutschland leider schon lange nicht mehr gilt. Zuletzt war 1998 klar, dass eine Opposition gemeinsam antritt, um eine Regierung abzulösen. Danach war nur noch Wundertüte. Bis heute herrscht der Trend vor, eher zu erklären, mit wem man nicht regieren will, bis hin zur vollständigen Tabuisierung einer Partei, die gerade auch deswegen immer stärker wird.
In der vergangenen Woche erklärte der CDU-Chef Friedrich Merz, dem es bislang nicht gelungen ist, wie angekündigt, die AfD zu halbieren, das seine Partei künftig eine „Alternative für Deutschland mit Substanz“ sein solle. Daraufhin startete die Empörungswelle. Ein schockierter Kevin Kühnert trat vor die Kameras und empfahl, Merz solle in den Urlaub fahren und dort noch einmal nachdenken, ob das sein Beitrag zur politische Debatte sein soll. Zuvor sorgte sich der SPD-General noch um die Mitglieder der stolzen, konservativen, demokratischen Partei in Deutschland [sic!], die für die Demokratie die Fahne hochhalten und nun vom Parteivorsitzenden respektlos behandelt würden.
Kühnert liegt also mehr am Wohlergehen der CDU und deren Mitgliedern als an den Menschen, die sich nicht mal mehr eine Woche Urlaub leisten können. Herr Merz solle sich nicht an der AfD abarbeiten, sondern stolz darauf sein, dass SPD und CDU – gemessen an der Zahl ihrer Mitglieder – immer noch so etwas wie Volksparteien seien. Vielleicht sind das ja weitere Gründe für den steten Zuwachs der AfD. Selbstüberschätzung und die Weigerung, sich inhaltlich mit ihr zu beschäftigen. Die Markierung als demokratiefeindliche rechtsextreme Partei muss reichen. Nur nutzt sich das immer mehr ab, bis hin zum Absurden.
Denn noch lustiger reagierte Konstantin von Notz (Grüne) auf Twitter. Er schrieb entsetzt: „Dass die Union im Bund die breite Mitte preisgibt, um Rechtsdraussen irgendwelche ideologischen Verrücktheiten auszufechten, ist komplett irre.“ Wenn die Union die breite Mitte preisgibt, wäre doch nach aller vorhandenen Logik mehr Platz für andere da, wie zum Beispiel SPD und Grüne, die doch gerade erklärten, nicht über AfD-Stöckchen springen zu wollen, sondern die Menschen mit ihrem eigenen Programm überzeugen zu können. So gesehen, scheinen dann doch Politiker komplett irre zu sein, die sich vor allem um den Zustand einer Partei sorgen, der sie gar nicht angehören.
Bildnachweis: Screenshot, HAZ Titelseite vom 24. Juli 2023
JUL
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.