Russland hat das Getreideabkommen nicht verlängert. Als Grund wird genannt, dass Teile der Vereinbarung, die Russland betreffen, bislang nicht erfüllt worden seien. Die Reaktion im Westen: Putin setzt den Hunger wieder als Waffe ein. Die Ukraine greift die Krim-Brücke an und beschädigt diese. Es kommt dabei zu zivilen Opfern. Die Reaktion des Westens: Die Brücke sei ein „illegaler Bau“ in einem besetzten Gebiet und stelle somit ein legitimes militärisches Ziel dar. Der Angriff erfolgte zudem menschenfreundlich nachts. Die elenden Experten rudern mal wieder orientierungslos durchs Sommerloch.
„Niemand darf im 21. Jahrhundert einen Angriffskrieg führen und straflos bleiben“, sagte Außenministerin Annalena Baerbock zu Beginn dieser Woche. Das schützt immerhin Deutschland vor einer Anklage, das sich kurz vor dem Ende des 20. Jahrhunderts an dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien beteiligte. Das hat die Ministerin also klug formuliert, obwohl dann noch die Frage offen bleibt, was mit einer Reihe von US-Präsidenten und dem ehemaligen britischen Premier Tony Blair oder dem ehemaligen französischen Präsidenten Sarkozy geschehen soll, die allesamt völkerrechtswidrige Kriege begonnen und weitergeführt haben.
Lücken schließen und Lücken lassen
Der Blick ist nach vorn gerichtet, denn die Außenministerin hat erkannt, dass das internationale Recht Lücken hat. Diese will Baerbock nun schließen, damit die Welt in Frieden leben kann und kein Staat mehr Angst vor einem großen Nachbarn haben muss. Dass die USA noch nicht gedroht haben, Annalena Baerbock mit Sanktionen zu belegen, spricht für die Irrelevanz ihrer Äußerungen. Anders war es noch im Jahr 2020, als die US-Regierung Mitarbeiter des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag davor warnte, Ermittlungen wegen möglicher Kriegsverbrechen in Afghanistan und gegen US-Sicherheitskräfte aufzunehmen. „Wir können und wollen nicht dabei zusehen, wie unsere Leute von einem korrupten Gericht bedroht werden“, sagte der damalige US-Außenminister Mike Pompeo.
Die ehemalige Chefanklägerin Fatou Bensouda sah sich massiven Druck von Seiten der USA und Großbritanniens ausgesetzt. Sie versuchte wegen Foltervorwürfen in Afghanistan und Irak zu ermitteln, scheiterte aber letztlich am Widerstand der genannten Staaten, die dem Gericht und dessen Mitarbeitern offen drohten. Diese Länder unternahmen wiederum nichts, um gegen Kriegsverbrecher in den eigenen Reihen vorzugehen, sondern verschärften stattdessen Gesetze gegen Whistleblower und kritische Journalisten, die Informationen über Verbrechen ans Tageslicht brachten. Einer von ihnen ist Julian Assange, der seit Jahren im britischen Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh in Auslieferungshaft sitzt, weil er diese Beweise lieferte. An ihm statuiert der „gute Westen“, der immer auf die Einhaltung von Menschenrechten pocht, deshalb ein Exempel. Die USA würden ihn wegen Geheimnisverrats am liebsten für immer hinter Gitter sehen.
Hier gilt das Recht des Stärkeren und eben nicht die Herrschaft des Rechts. Baerbock sagt nun aber nicht: Wenn wir nicht darauf reagieren, ist die Antwort der internationalen Gemeinschaft auf die Aggression Amerikas Straflosigkeit, sondern: „Wenn wir nicht darauf reagieren, ist die Antwort der internationalen Gemeinschaft auf die Aggression Russlands Straflosigkeit.“ Das Schicksal Assanges ist ihr wie das ihrer Wähler in Deutschland inzwischen wohl egal. Zumindest spricht ihr Schweigen in dieser Angelegenheit weiterhin Bände der Doppelmoral.
Das gilt auch für die elenden Experten, die das nächtliche Zerstören von Infrastruktur und die damit verbundenen Opfer plötzlich legitimieren. Einige Twitter-Krawallschachteln kritisieren die Medien sogar dafür, die russische Sichtweise abzubilden. Sie sollten darauf verzichten, weil doch aus Moskau nur Propaganda kommt. Außerdem wird korrigiert. So müsse man über die Krim von der okkupierten Krim berichten, wahrscheinlich um ihre Bedeutung als militärisches Ziel zu betonen. Nur ist eine Okkupation etwas anderes als eine Annexion, die ja tatsächlich stattgefunden hat. Letztere ist durch die Einverleibung eines fremden in das eigene Staatsgebiet gekennzeichnet, wogegen die Okkupation nur eine Besetzung von Territorium beschreibt ohne Einverleibung. Zum Beispiel besetzen die Amerikaner in Syrien das größte Ölfeld des Landes, al-Omar, in der östlichen Provinz Deir Ezzor. Dort befindet sich der größte von über 20 amerikanischen Militärstützpunkten in Syrien.
Was sind Abkommen?
Ob die da nun legal oder illegal errichtet worden sind, interessiert kaum einen. Hier müssen die Medien ihre Berichterstattung übrigens auch nicht korrigieren, denn sie berichten gleich gar nicht. Dafür plappert alles und jeder plötzlich den Satz nach, wonach Russland Hunger wieder als Waffe einsetze. Das klingt auch schlüssig, da Russland das Getreideabkommen einseitig gekündigt und in der Nacht damit begonnen hat, den Hafen von Odessa mit Raketen zu beschießen. Jetzt ist die Zerstörung von Infrastruktur übrigens wieder Terrorismus, weil vor allem Zivilisten zu Schaden kommen. Wie kann es aber überhaupt ein Abkommen mit Russland geben, wenn Putin doch gar nicht verhandeln wolle? Ist das Wesen eines Abkommens eine Übereinkunft, bei der sowohl die eine wie auch die andere Seite Pflichten hat oder eine Einbahnstraße, bei der das Verlangen das Verhandeln ersetzt?
Das russische Außenministerium hatte erklärt, dass ein Teil des Abkommens noch nicht umgesetzt worden sei. Demnach geht es um den Zugang von russischen Schiffen zu ausländischen Häfen, einer Normalisierung bei der Versicherung von Getreide- und anderen Trockenfrachtschiffen sowie darum, eine russische Landwirtschaftsbank wieder an das Zahlungssystem SWIFT anzuschließen. Ginge es nach Twitter-Krawallschachteln dürfe man darüber nicht berichten, weil russische Propaganda, dann würde man auch nicht erfahren, dass der UN-Generalsekretär António Guterres, offenbar ein Putinversteher, dem Kreml den Vorschlag unterbreitete, eine Tochtergesellschaft der russischen Landwirtschaftsbank zu gründen, über die dann vielleicht Transaktionen stattfinden könnten. Die EU, die ja die Sanktionen im Zahlungsverkehr zu verantworten hat, müsste das aber zunächst prüfen. Diese vage Zusage war den Russen wohl zu wenig.
Dort ist man der Auffassung, dass es doch einfacher wäre, die bestehende Bank wieder an SWIFT anzuschließen. Der Vorschlag, erst eine Tochtergesellschaft zu gründen, die irgendwann vielleicht anders behandelt würde als die Mutter, betrachtet Moskau wohl zurecht als eine Art Ablenkungsmanöver. Die EU will offenbar vermeiden, eine Korrektur ihrer eigenen Sanktionen vorzunehmen, weil das als Eingeständnis oder Schwäche gewertet werden könnte. Wer nun wie den Hunger als Waffe einsetzt, bleibt damit dem Urteil des Publikums überlassen. Annalena Baerbock bemüht sich jedenfalls, die russischen Vorwürfe zu entkräften. Russlands Export von Lebensmitteln und Medikamenten sei von den Sanktionen ausgenommen. Das mag stimmen, aber darum geht es ja gerade bei der Blockade von Zahlungssystemen nicht.
Ein Blick in das 11. Sanktionspaket der EU genügt, um das zu verstehen. Unter den Kernpunkten taucht auch der Finanzsektor auf. Dort steht.
- Die russischen Banken wurden vom SWIFT-System ausgeschlossen. Das bedeutet ganz konkret: Diese Institute wurden von den internationalen Finanzströmen abgeklemmt; sie können faktisch am internationalen Zahlungsverkehr nicht mehr teilnehmen, was ihr globales Agieren massiv einschränkt.
- Die EU hat die Transaktionen der russischen Zentralbank verboten und alle ihre Vermögenswerte eingefroren sowie die Vermögenswerte russischer Oligarchen ins Visier genommen. Der russischen Zentralbank wurden zudem weitreichende Beschränkungen für den Zugriff auf ihre Devisenreserven in der EU auferlegt.
- Ganz konkret heißt das: Über 70 Prozent des russischen Bankenmarktes und wichtige staatliche Unternehmen sind – auch im Verteidigungsbereich – von den wichtigsten Kapitalmärkten abgeschnitten.
Nun kann man sich noch einmal die Definition von Abkommen zu Gemüte führen und sich fragen, wie man in solchen Formaten das Verlangen in etwas für beide Seiten Anwendbares transferiert. Die doppelten Standards helfen da nicht weiter, sondern nur das Prinzip quid pro quo. Fehlt aber die Bereitschaft zur Gegenleistung, gilt weiter das Recht des Stärkeren und eben nicht die Herrschaft des Rechts.
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JUL
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.