Beliebte Thesen

Geschrieben von: am 26. Mai 2023 um 16:50

Eine beliebte These hierzulande ist: Jedes Land dürfe selbst bestimmen, in welchen Bündnissen es sein will. Das ist falsch.

Mexiko oder Kanada wäre es nicht erlaubt, ein Militärbündnis mit Russland oder China einzugehen. Die Stationierung von sowjetischen Raketen auf Kuba als Reaktion auf die Stationierung von Nato-Raketen in der Türkei wurde nicht toleriert und hätte in den 1960er Jahren beinahe zum 3. Weltkrieg geführt. US Präsident Kennedy sagte nach ausgestandener Kubakrise damals sinngemäß, dass vor allem Atommächte, bei steter Verteidigung der eigenen Lebensinteressen, solche Konfrontationen vermeiden müssen, die einem Gegner nur die Wahl eines demütigenden Rückzugs oder eines Atomkriegs lassen.

Wer unter dem Kräftemessen großer Atommächte leidet, das sind die Stellvertreter. Kuba damals, das von der Sowjetunion fallengelassen wurde und heute die Ukraine, die ziemlich sicher von den USA fallengelassen wird, wenn sie nicht liefert. „Return on investment“, nennen das Experten, die nicht aus Deutschland kommen.

Ein aktuelleres Beispiel widerlegt die Ausgangsthese ebenfalls. Das Atomwaffenabkommen mit dem Iran wurde 2015 zwischen Iran und den USA, Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Russland und China geschlossen. Die EU war stolz wie Bolle auf die Vereinbarung, versprach sie neben der Beilegung eines jahrelangen Konfliktes auch die Aussicht auf friedlichen Handel. Ein außenpolitischer Erfolg. Der währte allerdings nicht lang. Denn als der unsägliche Donald Trump an die Macht kam und ins Weiße Haus einzog, kündigte er einseitig die Vereinbarung auf. Sie existierte danach weiter, nutzte den anderen Vertragspartnern aber nichts, da die USA ihre berühmten Sekundärsanktionen androhten, also Strafen für Akteure und Unternehmen, die weiter Geschäfte ohne US-Bezug mit Iran machen wollten.

Das wirkte. Der Versuch der EU, dem etwas entgegenzusetzen, um das Abkommen zu retten, war halbherzig und scheiterte. Auf einer beliebig herausgesuchten Seite wie hier bei der IHK Wiesbaden steht als Einschätzung der Lage im Jahr 2018 Folgendes:

Der Ausstieg der USA aus dem Atom-Abkommen mit Iran hat zwar keine Auswirkungen auf die rechtliche Beurteilung der Iran-Geschäfte nach deutschem und europäischem Recht. Denn die Entscheidung der USA führt nicht automatisch dazu, dass die europäischen Sanktionen gegen Iran wieder in Kraft treten. Allerdings werden deutsche Unternehmen mit Blick auf eventuelle Sekundär-Sanktionen der USA und mögliche Benachteiligungen bei ihren US-Geschäften abwägen müssen, inwieweit sie sich weiter in Iran engagieren.

Es gibt also kein Recht, frei zu entscheiden, welchen Bündnissen man sich anschließt. Die USA müssen zustimmen, könnte man hier noch anfügen. Nach der Ermordung des iranischen Generals Qasem Soleimani bei einem US-Luftangriff im Januar 2020 beschlossen auch die Iraner, sich aus dem Abkommen zurückzuziehen. Da stellt sich doch die Frage, warum sich heute alle darüber wundern, dass Teheran und Moskau sich annähern, der eine den anderen mit Waffen unterstützt und beide an einer neuen Nord-Süd Handelsroute arbeiten. Hier könnte man andersherum sagen, diese Länder wollen die These erfüllen, wonach jeder frei entscheiden könne, welchem Bündnis es angehört.

Von Scherzen und Missachtung

Das führt auch zur zweiten falschen Behauptung, die ständig kursiert und wonach der Krieg alleinige Schuld Russlands sei, das vollkommen unprovoziert sein Nachbarland angegriffen hätte. Kriege entstehen nie einfach so, sondern sind immer ein Instrument der Politik. Das wusste schon Clausewitz, der schrieb: „Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.“ Das bedeutet aber umgekehrt, dass die bisherigen Mittel der Politik für alle erkennbar ausgeschöpft sein mussten. Und auch dafür gibt es Belege, für die man nicht einmal bis 2014 und den Vorgängen rund um den Maidan zurückgehen muss. So reiste der Kanzler kurz vor Kriegsausbruch 2022 erst nach Kiew, dann nach Moskau, um dort einen Scherz auf Kosten Putins zu machen.

Um die fortgesetzte Missachtung russischer Sicherheitsinteressen durch den arroganten Westen diplomatisch zu kaschieren, erklärte Scholz, dass eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine derzeit nicht auf der Tagesordnung stehe und auch solange nicht wie er oder Putin im Amt seien, wobei, und das war der Witz, Scholz nicht genau wisse, wie lange Putin denn noch im Amt bleiben wolle. Worin besteht nun die westliche Arroganz oder Mitverantwortung am Kriegsausbruch? In dem Witz des Kanzlers sicherlich nicht. Aber in der Missachtung russischer Sicherheitsinteressen, die man nicht teilen muss, aber auch nicht, wie damals und heute immer noch, einfach nur belächelt und als haltlos bezeichnet. Worum es dabei konkret geht, hat Klaus von Dohnanyi in einem Interview mit der Sendung DAS! im NDR Fernsehen einmal auf den Punkt gebracht.

Putin wollte es diesmal schriftlich, aber Biden sagte, darüber verhandeln wir erst gar nicht. Von den elenden deutschen „Experten“ werden solche Zusammenhänge leider nur allzu oft als indiskutabel abgetan, wenn nicht sogar mit dem Etikett „russische Propaganda“ versehen, also als eine Haltung gebrandmarkt, die lediglich russische Narrative bedient oder wiedergibt. Blöd nur, wenn diese an Qualität arme deutsche Debatte ab und zu mal einen frischen Impuls von außen erfährt, wie das Adam Tooze bei Illner diese Woche gemacht hat. Die Süddeutsche schreibt daraufhin positiv überrascht:

Und drittens, und hier wird es spannend, trifft Tooze unter anderem auch Aussagen, die man in Deutschland eher von Menschen hört, die sich gerne in Talkshows desavouieren. Zum Beispiel, dass es keinen Grund gibt, daran „zu zweifeln, dass für die Russen die Nato-Osterweiterung eine fundamentale Herausforderung darstellt“. Oder, dass man die nukleare Bedrohung, die Russland darstellt, wirklich sehr ernst nehmen müsse. Oder, dass die Ukraine sich irgendwann auf einen „dreckigen Deal“ wird einlassen müssen. Thesen also, die in der deutschen Öffentlichkeit, nicht zuletzt aufgrund der Dauer-Talkshow-Teilnahme von Menschen wie Strack-Zimmermann seit Langem als „russische Propaganda“ gehandelt werden. Nur, dass Tooze sie eben nicht als Putin-Verteidigung vorträgt, sondern als im angloamerikanischen Raum ziemlich normale akademische Positionen, die sich faktisch gut verargumentieren lassen, ohne dass man dabei irgendwie an Putins enthemmtem Verhältnis zu Gewalt zweifelt. Als könnte man beides tun: Russland verurteilen, ohne Amerika von wirklich jedem Vorwurf freizusprechen.

Die beliebten Thesen der deutschen „Experten“ gilt es daher stets zu hinterfragen.


Bildnachweis: Adam Tooze bei „maybrit illner“, 25. Mai 2023

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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