In Berlin hat es eine Bürgermeisterwahl gegeben. Drei Wahlgänge waren nötig, damit Kai Wegner als neuer Regierender Bürgermeister ins Amt gelangt. Eigentlich ein ziemlich demokratischer Vorgang, weil so in der Verfassung vorgesehen. Diesen Eindruck teilen aber nicht die Berufsempörten, die einmal mehr der AfD auf den Leim gehen wollen. Darunter viele Politiker, aber auch Top-Journalisten, die die Sache mit den Wahlgängen nicht verstehen.
Mit dem dritten Wahlgang erschien ein Schreiben der AfD-Fraktion, wonach diese ankündigte, Kai Wegner mitzuwählen. Dieser erhielt dann 86 Stimmen, also genau so viele, wie CDU und SPD Sitze im Abgeordnetenhaus haben. Da der Kandidat aber in den beiden Wahlgängen zuvor, die von der Verfassung geforderte absolute Mehrheit der Sitze verfehlte, muss die AfD ihm also geholfen haben, weil die das ja offen zusagte. Was für ein Skandal, findet zum Beispiel der Grüne Christian Meyer aus Niedersachsen. Kai Wegner hätte die Wahl auf keinen Fall annehmen dürfen.
Man kann sich offenbar aussuchen, von wem man sich wählen lässt und geheime Wahlen sind gar nicht geheim, weil man den Äußerungen der AfD eine hohe Glaubwürdigkeit bescheinigt. Aber wäre das nicht schon peinlich genug, bei dieser Posse kommt nun auch noch völlige Unkenntnis hinzu. Denn während der Kandidat in den ersten beiden Wahlgängen die absolute Mehrheit erreichen muss, reicht im dritten die relative aus. Das bedeutet, dass es völlig egal ist, wer wen mitwählt, wenn es nur einen Kandidaten gibt.
Der ist dann nämlich immer gewählt, weil er die meisten Stimmen auf sich vereint, theoretisch sogar, wenn gar keiner wählt. Die Berufsempörten, die sich in den beiden ersten Wahlgängen auf den fiktiven Kandidaten „Nein“ verständigt haben, können sich im dritten Wahlgang nicht auf diesen berufen. „Nein“ kann kein Amt übernehmen, sondern nur eine Person im Sinne des Gesetzes. Die Opposition wäre folglich dazu gezwungen, dass gemeinschaftliche „Nein“ konstruktiv mit der Aufstellung eines Gegenkandidaten zu verwerten und so zu ermitteln, wer tatsächlich die meisten Stimmen auf sich vereint. So funktioniert die Demokratie.
Das ist, sofern man in der Schule nicht gepennt hat, eine Lehre aus der gescheiterten Weimarer Republik, wo es tatsächlich möglich war, dass eine destruktive Mehrheit, die durch gegenseitige Ablehnung geprägt war, dennoch durch gemeinschaftlichen Unwillen die parlamentarische Arbeit außer Kraft setzen konnte. In der heutigen Zeit ist dem ein Riegel vorgeschoben, wobei das unter Fachleuten tatsächlich immer noch umstritten ist. Ein wunderbares Beispiel ist Thüringen mit dem Kurzzeit-Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich.
Der trat in einem dritten Wahlgang gegen den zuvor zweimal gescheiterten Bodo Ramelow an und gewann, weil er die meisten Stimmen auf sich vereinigen konnte. Wäre es hingegen bei nur einem Kandidaten geblieben, so wäre dieser mit relativer Mehrheit gewählt worden, was später auch geschah, nachdem die Wahl Kemmerichs eine Regierungskrise auslöste. Der konnte nämlich gar keine eigene Regierung bilden, wie sich herausstellte und trat zurück. Bodo Ramelow wurde wiederum nach zwei gescheiterten Wahlgängen dann im dritten mit einfacher Mehrheit gewählt.
Nun wird es aber ulkig, weil dass nach Auffassung vieler Experten nur aufgrund der Enthaltungen möglich war. Diese führten dazu, dass der Anteil der Nein-Stimmen deutlich unter denen der Ja-Stimmen landete und somit kein Zweifel an der Legitimität der Wahl bestand. Doch selbst wenn es mehr Nein- als Ja-Stimmen gegeben hätte, wäre der eine Kandidat gewählt, da das „Nein“ kein Amt übernehmen kann und eine Möglichkeit, den dritten Wahlgang lediglich zur Verhinderung des einzigen Kandidaten, der antritt, zu missbrauchen, eine kühne Interpretation der Verfassung wäre.
Man könnte sogar soweit gehen und sagen, dass bei Wahlen mit nur einem Kandidaten die Nein-Stimme systemwidrig ist. Denn diese gibt es ja auch nicht, wenn zwei oder mehr Kandidaten gegeneinander antreten. Zu behaupten, dass es im Rahmen einer Wahl mit nur einem Kandidaten möglich sein muss, diesen auch im dritten Wahlgang abzulehnen, ist zu kurz gedacht, da im konstruktivem Verständnis demokratischer Prozesse spätestens dann die Benennung eines Gegenkandidaten erfolgen müsste, um eine Entscheidung mit relativer Mehrheit herbeizuführen. Eine Weigerung, das zu tun, bei gleichzeitigem Beharren auf einer Ablehnung des einzig verfügbaren Kandidaten durch Nein-Mehrheit, wäre demnach undemokratisch und wie schon erwähnt, systemwidrig.
Im Übrigen würde diese konstruktiv-destruktive Nein-Mehrheit gegen einen realen Kandidaten dann auch irgendwie mit den Stimmen der AfD zustande gekommen sein. Wie will der grüne Musterdemokrat aus Niedersachsen diesen fiktiven Rückfall in Weimarer Verhältnisse eigentlich verkaufen? Da reicht es nicht, nur darauf zu verweisen, dass die Regierung keine eigene Mehrheit zustande bringt. Wie soll das im Alltag überprüft werden, wenn der Kandidat „Nein“ zwar eine parlamentarische Mehrheit besitzt, eine Zusammenarbeit mit der AfD aber ausgeschlossen bleibt? Oder will die Opposition nun etwa bei eigenen Anträgen oder Anträgen der Regierung mit der AfD stimmen, nur um zu beweisen, dass CDU und SPD keine Mehrheit haben?
Bildnachweis: Screenshot, Übertragung phoenix, 27. April 2023.
APR
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.