Noch in dieser Woche soll endlich ein neues Wahlrecht beschlossen werden, das sicherstellt, dass der Bundestag schrumpft. Allerdings ist das Gegenteil der Fall. So soll die Regelgröße künftig nicht mehr 598, sondern 630 Abgeordnete betragen. In der umfassenden Kritik an den Details der Reform, wie etwa mit Blick auf die Streichung der Grundmandatsklausel, kommt die Aufgabe des eigentlichen Ziels, nämlich eine Verkleinerung des Bundestages zu erreichen, gar nicht vor.
Zugegeben: wenn man von der jetzigen Größe des Parlaments mit 736 Abgeordneten ausgeht, bedeuten 630 natürlich eine Verkleinerung. Jedoch basiert die aktuelle Zusammensetzung des Bundestages auf einer Regelgröße von 598. Die Gewährung von Überhang- und Ausgleichsmandaten trägt zur weitgehend ungebremsten Aufblähung bei. Um eine Verkleinerung des Parlaments zu erreichen, wäre es logisch, diese Praxis zu beenden. Der ursprüngliche Vorschlag der Ampel-Parteien sah das auch vor, indem man den Gewinnern von Wahlkreisen ihre Sitzplatzgarantie entzog. Denn maßgeblich soll das Ergebnis der Zweitstimme sein, die zudem als Hauptstimme klarer benannt würde. Gewinnt eine Partei mehr Wahlkreise als ihr Sitze nach dem Anteil der Hauptstimme zustehen, würden die schlechtesten Wahlkreisgewinner einfach leer ausgehen.
Damit würde erreicht, dass die Regelgröße von 598 Sitzen zur festen Größe wird, die man nicht mehr überschreiten kann. Es gebe also eine reine Verhältniswahl, die aber, und das ist der Schwachpunkt, um eine abgeschwächte Form der persönlichen Mehrheitswahl weiterhin ergänzt würde. Das ist ein Problem mit Ansage, denn warum sollte der Gewinn eines Wahlkreises nicht mehr automatisch mit einem Sitz im Parlament belohnt werden. Was soll dann diese Wahl überhaupt noch, zumindest in den Wahlkreisen, die betroffen wären? Das Mischsystem aus Verhältnis- und Mehrheitswahl war in der Theorie immer eine tolle Sache, in der Praxis aber vollkommen untauglich. Das fängt schon bei der Benennung von Erst- und Zweitstimme an. Das war, ist und bleibt verwirrend, da nicht die Erst-, sondern die Zweitstimme maßgeblich für die Zusammensetzung des Parlaments ist. Dieses Prinzip kapieren viele bis heute nicht, deshalb schlug die Ampel vor, aus der Zweitstimme die Hauptstimme zu machen und aus der Erststimme die Wahlkreisstimme.
Wie man hört, soll es nun aber doch bei Erst- und Zweitstimme bleiben, weil sich diese begrifflich bewährt hätten. Doch das ist einfach falsch, wie die Überlegungen zu Haupt- und Wahlkreisstimme ja selbst belegen. Man wollte eine Klarstellung, die nicht nötig wäre, wenn alle wüssten, was mit Erst- und Zweitstimme gemeint ist. Die bestehende Verwechslungsgefahr wäre jetzt sogar noch schwerwiegender, wenn die Erststimme zwar dazu führte, dass der Kandidat im Wahlkreis gewänne, aber nicht in den Bundestag einzöge, weil das Zweitstimmenergebnis für seine Partei es nicht hergibt. Diesem Problem steuert die Ampel nun mit einer Vergrößerung der festen Größe des Parlaments entgegen. Man einigte sich auf 630 Sitze bei gleicher Anzahl der Wahlkreise von 299. Damit soll erreicht werden, dass die Wahlkreise, die über die gekappte Mehrheitswahl keine direkten Kandidaten entsenden dürfen, dann möglicherweise über die Parteilisten mit diesen Kandidaten doch noch vertreten sind. Es zeigt sich also, dass das Festhalten am Mischsystem hier immer noch das Sein bestimmt.
Stärkung der Verhältniswahl ist richtig
Dabei legt die Streichung der Grundmandatsklausel nahe, dass es der Ampel im Kern um eine Stärkung des Verhältniswahlrechts geht, was auch die richtige Zielsetzung ist. Denn im Parlament sollen die Parteien nach ihrem bundesweiten Stärkeverhältnis vertreten sein, aber eben ohne dass die Gesamtzahl der Sitze variiert. Bislang wuchs das Parlament beständig an, weil bis zu 15 Überhangmandate zwar rechtlich zulässig wären, das Zweitstimmenergebnis aber ohne entsprechende Kompensation dann auch stark verzerrt würde. Daher beschloss der Bundestag vor Jahren Ausgleichsmandate einzuführen, die aber nicht erst ab dem 16 Überhangmandat gewährt werden sollten, sondern schon ab dem ersten oder zuletzt (2021) ab dem dritten, was dann aber immer noch zu 138 Überhang- und Ausgleichsmandaten geführt hat.
Es hat bisher nicht an Versuchen gemangelt, diesen Irrsinn zu beenden. Es gab eine Lammert-Kommission, eine Schäuble-Kommission, eine Bundestagskommission zur Reform des Wahlrechts. Es gab Debatten über modifizierte Sitzkontingentverfahren, Ober- und Unterzuteilungen, Divisorverfahren, Kappungsmodelle, Wahlkreisreformvorschläge und direktmandatsorientierte Proporzanpassungen. Verkleinert wurde mit all dem aber nicht die Zahl der Abgeordneten, sondern derer, die da noch durchblickten.
Quelle: Süddeutsche
Nun kann man den Entwurf der Ampel-Koalition durchaus als richtigen Schritt betrachten, die Erhöhung der Sollstärke auf 630 bleibt dann aber trotzdem dem Umstand geschuldet, dass sich Abgeordnete eben ungern selbst abschaffen. Würde man hingegen ausschließlich auf das Verhältniswahlrecht setzen, wäre die Festlegung der Parlamentsgröße überhaupt gar kein Problem. Man könnte sogar noch deutlich unter die 598 gehen, wenn man es denn wollte. Man müsste aber konsequenterweise klar machen, dass einzig und allein das Prinzip der einen Stimme (one person, one vote) gelten muss, um einerseits für Klarheit zu sorgen und die Verwirrung um Erst- und Zweitstimme zu beenden. Zum anderen, um deutlich zu machen, das eine Verzerrung des Wahlergebnisses, etwa durch ein negatives Stimmgewicht, nicht mehr akzeptiert wird. Dafür muss aber auch die Praxis enden, sich in einem Teil des Wahlrechts auf Wahlkreise zu stützen, in denen ein personalisiertes Mehrheitswahlsystem zur Anwendung kommt.
Auch Wahlkreisabgeordnete sind Vertreter des ganzen Volkes
Das Argument, dass ein Wahlkreis im Bundestag durch Abgeordnete irgendwie vertreten sein muss, weil das aus Repräsentationsgründen erforderlich sei oder örtliche Themen dann mit Nachdruck vertreten würden, ist auch unter heutigen Bedingungen überhaupt nicht stichhaltig. Denn gibt ein direkt gewählter Abgeordneter sein Mandat zurück, wird in dem Wahlkreis eben nicht neu gewählt, um all diese Dinge zu bewahren, sondern es rückt in der Regel ein Bewerber von der Landesliste derjenigen Partei nach, für die der ausscheidende Abgeordnete kandidiert hatte (Quelle: Bundestag). Zudem legt das Grundgesetz eindeutig fest, dass Abgeordnete Vertreter des ganzen Volkes (Art. 38, GG) zu sein haben und eben nicht des jeweiligen Wahlkreises. Außerdem: Nicht einmal die Sesshaftigkeit in einem Wahlkreis oder in einem Bundesland ist Voraussetzung für eine Kandidatur und die Wählbarkeit im Wahlkreis oder auf der jeweiligen Landesliste.
Wie übertrieben regionale Belange in der Bundespolitik durchgesetzt werden, zeigen nicht nur Abgeordnete, in deren Wahlkreis Rüstungsfirmen hocken, sondern vor allem die CSU, die nur in Bayern antritt, dafür aber vergleichsweise viel Einfluss auf Bundesebene besitzt. Zurecht weisen die Ampelparteien daher darauf hin, dass eine Reform des Wahlsystems genau an dieser Regionalpartei immer wieder gescheitert ist, weil sie ihren Vorteil verständlicherweise nicht aufgeben will. Wenn nun aber die Wahlkreise, von denen die CSU in Bayern nahezu alle gewinnt, wegen der regionalen Bindung so wichtig sind, warum sollten die Wähler in anderen Bundesländern dann die relative Dominanz der CSU im Bund akzeptieren? Das wäre eben nur dann legitim, wenn CDU und CSU gemeinsame Listen hätten, über die auch Wähler in anderen Bundesländern abstimmen könnten. Diese Möglichkeit scheint mit dem jetzigen Entwurf wohl auch beabsichtigt zu sein.
Doch das ist eine Detailbetrachtung, die nur darüber hinwegtäuscht, dass der Bundestag eben nicht kleiner, sondern tatsächlich größer wird und zwar aus Gründen, die aus Sicht von Parteien und Abgeordneten wichtig sind. Für den Souverän ist das Wahlrecht eher nicht gemacht, da er es ja auch immer seltener nutzt, würde der Zyniker vielleicht sagen. Doch das hat ernsthafte Gründe. Denn die Frage ist berechtigt, ob ein noch so gutes Wahlrecht überhaupt dabei hilft, die Krise beim Angebot zu lindern. Parteien, die zwar gern verschiedene Regierungen bilden, aber dann gar keine andere Politik anzubieten haben, treten das demokratische Prinzip mit Füßen. Glaubwürdigkeit und Rückhalt nehmen ab, was dann wiederum dazu führt, dass der Verfassungsschutz einen neuen, gefährlich unscharfen Begriff für das allgemeine Unbehagen erfinden muss, der es unter Umständen sogar erlaubt, zulässige Kritik als extremistisch einzustufen.
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Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.