Symbolischer Extremismus

Geschrieben von: am 23. Dez 2022 um 18:11

Inzwischen ersetzen Meldungen über den Füllstand der Gasspeicher den täglichen Blick auf die Corona-Inzidenz. Erstmals seit November steigt der Füllstand wieder und damit gehe Deutschland gut vorbereitet in die Festtage, so der Präsident der Bundesnetzagentur, Klaus Müller. Ein achtsamer Umgang mit Gas bleibe trotzdem richtig, was nun wieder ein wenig nach Jens Spahn klingt, der einst als Bundesgesundheitsminister predigte, dass in einer schwierigen Lage alle miteinander und aufeinander gut aufpassen müssen. Die verstörende deutsche Haltung, eine Form überbordender Selbstgerechtigkeit, drückt sich in einem symbolischen Extremismus aus.

Da werden gleich zwei Masken übereinander getragen, um sich von Querdenkern abzugrenzen, demonstrativ Binden in Katar gezeigt, um den Gastgebern einer Weltmeisterschaft etwas über Vielfalt und Toleranz zu erklären, die man im deutschen Fußball allerdings bis heute vergeblich sucht, und es werden wegen des Krieges überall im Land ukrainische Flaggen gehisst, um deutlich zu machen, dass man auch ja auf der richtigen Seite steht, aber nur so lange, bis es wieder ein Zeichen braucht und die Regenbogenfahne am Mast empor gezogen wird. Deutschland zum Ausklang des Jahres 2022 taumelt irgendwo zwischen einem albernen Moralimperialismus und erschreckender Inkompetenz.

Begleitet wird das ganze Elend von einer zur Hysterie neigenden Kommunikation um Belanglosigkeiten. Auffallend still ist es dagegen bei wirklich wichtigen Fragen, zum Beispiel wer die Pipelines in der Ostsee in die Luft gesprengt hat, nachdem nun auch die Washington Post herausfand, dass es keine schlüssigen Beweise für eine russische Täterschaft gebe. In Deutschland herrscht wenig bis gar kein Interesse an der Aufklärung. Stattdessen läuten die Ampelminions in Wilhelmshaven eine neue Ära der Energieversorgung ein, und zwar mit einem Schiff, der „Höegh Esperanza“, das in Australien aus Umweltgründen keine Betriebserlaubnis erhielt.

Nun könnte man sagen, extreme Zeiten, erfordern extreme Maßnahmen. Der Bundeskanzler formulierte es so: „Russlands Präsident Putin hat geglaubt, er könne uns erpressen, indem er uns die Gaslieferungen abdreht. Aber er hat sich getäuscht. Wir lassen uns nicht erpressen.“ Dafür ist man künftig „völlig abhängig von US-Energielieferungen und damit politisch und volkswirtschaftlich erpressbar. Mission accomplished!“, schreibt Jens Berger auf den NachDenkSeiten. Bis dahin ist aber immer noch unklar, wie Deutschland und die EU eine Gaslücke im kommenden Jahr von gut 30 bis 60 Milliarden Kubikmeter Gas schließen wollen.

Will man dem globalen Süden etwa noch mehr wegnehmen, als das in diesem Jahr schon der Fall war oder soll der Bezug aus Russland doch wieder zunehmen, natürlich nicht über Pipelines, die sind ja kaputt, wie der Wirtschaftsminister neulich lapidar feststellte, dafür aber per Tanker? Gott bewahre. Niemals. Nein. Doch. Oh. „So haben die EU und Großbritannien die Einfuhr von Flüssiggas aus Russland um ein Fünftel gesteigert; zur Zeit beziehen sie 13 Prozent ihrer LNG-Importe von dort – mehr denn je.“ So sieht die nüchterne Realität hinter einem symbolischen Extremismus von Amtsträgern aus, die eine weitgehend orientierungslose Öffentlichkeit für dumm verkaufen wollen.

Denn warum gibt es eigentlich keinen Lockdown an Weihnachten? Die Fallzahlen explodieren, nicht bei Corona, dafür bei anderen Atemwegserkrankungen. Die Kinderkliniken sind voll, eine Impfung gibt es nicht. Würden die weitgehend evidenzfreien Maßstäbe des symbolischen Extremismus der letzten Jahre gelten, müsste das Land umgehend zum Stillstand gebracht werden. Doch plötzlich gilt wieder eine vernünftige Güterabwägung, wie der Chefredakteur der NZZ, Eric Gujer, schreibt. „Dass man sich während Corona weigerte, die Risiken genauso rational zu bewerten, zeigt jedoch, wie egoistisch eine alternde Gesellschaft ihre Prioritäten setzt. Alte Menschen geniessen einen erheblich höheren Stellenwert als junge. Grundlage für eine zukunftsfähige Politik ist das nicht.“

Die Deutschen hätten bereits vergessen, welcher bürokratische Irrsinn ihnen bisweilen zugemutet wurde, meint er. Da mag etwas dran sein, aber noch viel wahrer ist wohl seine Feststellung, dass der Extremismus der Mitte viel gefährlicher ist, als der Extremismus der Ränder, „weil nur die Mitte die Macht hat, ihre Stimmungen in Gesetze zu giessen. Das sollten die Deutschen nicht vergessen.“ Um so schlimmer ist es daher, dass es mit demselben Personal einfach immer so weitergeht, ohne Reflexion und Konsequenzen, dafür aber mit viel Selbstgerechtigkeit und symbolischem Extremismus. Warum kommen in den politischen Parteien so bemerkenswert unauffällige Persönlichkeiten ganz groß raus, fragte im März der Philosoph Michael Andrick in der Berliner Zeitung.

Ergebnis: Aufwärtsselektion und Abwärtsprotektion des Mittelmaßes sind die Bewegungsgesetze des Personals in Parteien. „Nach oben kommt, wer leidlich beliebt, inhaltlich weich und für die Mächtigen erkennbar harmlos ist. Wer oben ist, protegiert unter sich Personal, das die eigene Position nicht gefährden kann.“ Deshalb seien zum Beispiel Betrug (in Berlin sogar wiederholter Betrug) bei Publikationen, offene Interessenkonflikte und Korruptionsaffären keine Karrierehindernisse in Parteien. So werden aus der Mittelmaßanfertigung Verantwortungsflüchtlinge oder kurz: Extremisten, die nur noch mit Symbolen arbeiten, weil sie kritische Distanz und Aufarbeitung nicht mehr leisten können oder wollen. Sie sind dann wahrscheinlich sogar demokratieunfähig.


Bildnachweis: Screenshot, WDR Aktuelle Stunde

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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Kommentare

  1. Dirk S  Dezember 23, 2022

    Die Idiotie, die in der europäischen – speziell der deutschen – Politik herrscht, ist nicht mehr in Worte zu fassen. Es hinterlässt mich wirklich fassungslos…..