Die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan vor einem Jahr hat eines gezeigt. Dass sich auch am Ende eines langen Krieges immer Realpolitik durchsetzt. Die Amerikaner ließen ihr Marionettenregime und damit die demokratische Fassade in Kabul fallen. Übrigens zum Leidwesen der Verbündeten, darunter Deutschland, die wie die NATO als Ganzes den Kehrtwenden Washingtons stets folgten. Eine Aufarbeitung der chaotischen Flucht aus Afghanistan fehlt bis heute und in der Ukraine werden nun dieselben und ganz neue Fehler gemacht.
Die Verurteilung des russischen Angriffskriegs in der Ukraine ist eine ständige Übung. Etwas Schlimmeres habe es wohl offenbar noch nie gegeben, dabei sind sich Ost und West bei ihrer Kriegsführung erschreckend ähnlich. Es ist daher kein Whataboutism daran zu erinnern, was vor einem Jahr in Kabul stattgefunden hat und daran, dass der Krieg in Afghanistan 20 Jahre dauerte. Er war Teil des sogenannten War on Terror, der sich während dieses Zeitraums außerdem auf Länder wie den Irak, Pakistan, Syrien, Jemen und noch weitere Staaten ausdehnte. Insgesamt starben rund 900.000 Menschen, ohne dass sich einer der Verantwortlichen dafür vor einem Gericht hätte verantworten müssen.
Dabei gab es Ankläger, wie beispielsweise Fatou Bensouda vom ICC (Haager Tribunal, IStGH), die es dennoch versuchten und unter anderem die Kriegsverbrechen der US-Militärs und der CIA untersuchen wollten. Sie wurden postwendend von den Amerikanern bedroht und sanktioniert, zum Beispiel mit dem Entzug der Einreiseerlaubnis.
„Die USA verabschiedeten sich aus Afghanistan, wie sie auch gekommen waren: per Drohnenangriff“, schreibt Michael Lüders in seinem Buch „Hybris am Hindukusch“. Als Reaktion auf einen Selbstmordanschlag am Kabuler Flughafen am 26. August 2021, bei dem 175 Menschen starben, darunter auch 13 US-Soldaten, beschoss eine Drohne am 29. August eine Wohnsiedlung. Getötet, nein, ermordet wurden dabei zehn Angehörige zweier Familien, darunter sieben Kinder. Als Ortskräfte besaßen alle gültige Visa für Amerika. Erst hieß es wie immer, man habe Terroristen ins Visier genommen, die einen Anschlag planten, später räumten die USA ein, einen „tragischen Fehler“ begangen zu haben. Shit happens, wie so oft in Afghanistan, einem Krieg, an den sich angesichts der russischen Aggression in der Ukraine niemand mehr erinnern will.
Strategiewechsel nach Scheitern
Bis zu neun von zehn Drohnenangriffen haben Zivilisten getötet, sagt der Whistleblower Daniel Hale, der dafür übrigens zu 45 Monaten Gefängnis wegen Geheimnisverrats verurteilt wurde. Es war ein verbrecherischer Krieg gegen die Bevölkerung Afghanistans, der für den Westen allerdings eine bestimmte Lehre beinhaltete. Künftige Konflikte müssten anders ausgetragen werden, aber nicht wegen der vielen unschuldigen Opfer, sondern wegen der hohen Kosten. Die Amerikaner haben für den Krieg rund zwei Billionen US-Dollar investiert, die Bundesregierung gab offiziell 17,3 Milliarden Euro aus. Dazu kommt der chaotische Abgang, der wohl kein Einzelfall bleiben wird. Aktuell bahnt sich in Mali das nächste militärische Abzugsdebakel für die Deutschen an.
Dieses Scheitern im Antiterrorkampf führt zu einer notwendigen Anpassung der Strategie. Der Einsatz bewaffneter Drohnen dürfte noch wichtiger werden, auch die Bundesregierung hat die vor dem Ukraine-Krieg umstrittene Beschaffung nunmehr geräuschlos über die Bühne gebracht und selbst die grüne Außenministerin, die ohne Amt noch ganz anders sprach und forderte, übernimmt mit Blick auf die Relaisstation Ramstein die Sprachregelung ihrer Vorgänger. Bereits sichtbar ist das Mittel des Wirtschaftskrieges, der als Antwort auf den Einmarsch in die Ukraine gegenüber Russland erklärt worden ist. Der massive Einsatz von Sanktionen gehört inzwischen zum Kriegshandwerk. Statt eigener Truppen werden auch immer mehr Militärberater mobilisiert, die dafür sorgen sollen, dass die Kräfte vor Ort mit den Waffen aus dem Westen möglichst lange einen Stellvertreterkrieg führen können.
Eine günstigere Alternative ist das allerdings nicht. So richtet insbesondere der Wirtschaftskrieg einen ebenso großen Schaden in den Ländern an, die die Sanktionen erlassen haben. Dafür gelingt es wiederum, die öffentliche Meinung so weit zu beeinflussen, dass die Schuld an den unangenehmen Folgen dieser Konfrontation allein dem Aggressor zugeschrieben wird und nicht etwa der westlichen Reaktion. Inzwischen bröckelt aber der Rückhalt, Proteste hie und Wahlniederlagen da werden befürchtet. Eine Rückkehr der Realpolitik wird über kurz oder lang kommen müssen. In Amerika wird die Frage nach einer Verhandlungslösung bereits viel offener diskutiert als das in Deutschland der Fall ist. Aber die Bundesregierung wird wie in Afghanistan einfach folgen, wenn in Washington die Einschätzung plötzlich wieder eine andere ist. Der Schaden indes bleibt.
Abhängigkeiten
Viel ist den letzten Wochen über Abhängigkeiten gesprochen worden. Man müsse die Energieversorgung und Lieferketten diversifizieren, sagte der Bundeskanzler in seiner Sommerpressekonferenz.
Ansonsten ist es aus meiner Sicht ein notwendiger Bestandteil unserer nationalen Sicherheitsstrategie, an der wir gerade arbeiten, dass die Frage der Unabhängigkeit unseres Landes in zentralen Fragen, was Lieferketten, Rohstoffe und andere Dinge betrifft, mitdiskutiert wird. Wir werden also schon dafür sorgen müssen, dass wir Lithium an vielen Stellen der Welt heben und dass wir es dann auch exportierbar in Länder wie unseres machen, sodass eben keine einseitigen, sondern diversifizierte Beziehungen zur ganzen Welt existieren. Das gehört dazu.
Nur was ist klug daran, sich der erratischen Außenpolitik der Amerikaner unterzuordnen, sich also abhängig zu machen und beispielsweise auf den Einsatz von Nord Stream 2 zu verzichten, nur weil es die USA so wollen? Und was ist klug daran, dass größte Land der Erde mit den größten Reserven an Seltenen Erden, den größten Erdgasreserven, den zweitgrößten Braunkohlereserven, den zweitgrößten Eisenerz-Reserven, den viertgrößten Steinkohlereserven und den sechstgrößten Ölreserven der Welt faktisch von den Beziehungen auszuschließen? Wie kann man nur darauf kommen, dass andere Staaten sich der deutschen Position auch nur im Traum anschließen würden? Die, auch die Freunde, betreiben längst wieder Realpolitik und keinen Kindergarten mit Bürgerdialogen und Gedankenspielchen über ein „Brutalistan“.
Bildnachweis: Screenshot, ZDF Spezial, 16. August 2021.
AUG
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.