Der Bundeskanzler hat bereits mehrere Fehler gemacht. Er hat zugelassen, dass Twitter Karl Lauterbach zum Gesundheitsminister macht, und er ist gegenüber derselben hysterischen Öffentlichkeit bei der Frage nach schweren Waffen an die Ukraine eingeknickt. Deren Außenminister Kuleba hat gestern der SPD ihre frühere Russland-Politik verziehen. Der Kanzler führt nicht, er wird vorgeführt.
Wie klug ist es eigentlich, Flüssiggas aus Katar mit noch zu bauenden Tankern nach Deutschland zu bringen, wenn diese wiederum mit Schweröl aus Russland betrieben werden? Diese Frage muss vermutlich nicht mehr beantwortet werden, da das groß angekündigte Gasabkommen mit Katar ohnehin zu platzen droht (siehe hier und hier). Der globale Süden versucht den neomoralinen Deutschen offenkundig zu vermitteln, dass das Gerede von einer Energieunabhängigkeit naiver Unsinn ist. Wer auf eine bestehende Pipeline nach Russland verzichtet – der Emir wundert sich darüber übrigens sehr – braucht nicht zu denken, dass er künftig auf eine lockerflockige Handelsbeziehung im arabischen Raum zu eigenen Bedingungen setzen kann.
Deshalb werden wir sowieso alle ärmer werden, kündigte Wirtschaftsminister Robert Habeck bereits an. Was er damit meinte: den eigenen Moralismus muss man sich leisten können. Denn arm werden durch diese Politik tatsächlich viele werden, aber wenige auch immer reicher. Embargos auf Kohle, Öl und Gas, deren Bezug durch langfristige Lieferverträge zu vergleichsweise günstigen Preisen stets gesichert war, werden nur zu einer Verteuerung dieser Rohstoffe auf dem Weltmarkt führen. Da sich der Rest des Globus nicht von Moral leiten lässt und schon gar nicht den Sanktionen der Europäer folgt, wird der Verzicht auf vereinbarte Liefermengen Russland kaum treffen. Im Gegenteil: Durch den Verkauf seiner Rohstoffe an andere könnte es langfristig sogar als Gewinner aus dem Konflikt hervorgehen. Die Wirkungslosigkeit oder gar negativen Effekte der Sanktionen räumt im Prinzip auch Wirtschaftsminister Habeck ein, aber das wiege eben nicht so schwer wie eine moralische Verpflichtung, die offenbar erwartet wird. Man dürfe schließlich den Angriffskrieg, den Russland führt nicht auch noch durch den weiteren Bezug von Energie unterstützen. Die Angriffskriege der anderen potenziellen Rohstofflieferanten sind da im Augenblick egal.
Bekanntes Muster
Die Politik folgt einem bekannten Muster. Das Klatschen für Pfleger, der Lockdown im Namen der Wissenschaft, der Verzicht auf Evaluation solcher Maßnahmen ebenfalls im Namen der Wissenschaft, die Pilgertouren nach Kiew, schwere Waffen und noch mehr schwere Waffen, warum eigentlich nicht gleich die Atombombe, fragt Jakob Augstein, der Verzicht auf Kohle, Öl und Gas „für immer“, wir leben in der Symbolrepublik Deutschland. Hier fallen Entscheidungen nach sonderbaren Kriterien. Rational ist das nicht. Was eben noch Karl Lauterbach war, sind nunmehr Michael Roth, Toni Hofreiter und Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Früher nannte man solche Gestalten Quartalsirre, inzwischen haben kognitiv gestörte Politiker aber Dauerkonjunktur. Vermutlich fühlen sie sich ermuntert durch eine Presse, die sich als Knallzeuge des Geschehens vor aller Welt blamiert. Ein Knallzeuge ist jemand, der es hinter seinem Rücken Krachen hört, sich erschrocken umdreht und dann im Brustton der Überzeugung behauptet, den Unfall- oder Tathergang genau gesehen zu haben. So läuft die Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine im Moment.
Das lenkt auch ein wenig von den eigentlich interessanten Fakten ab. So hat Glenn Greenwald mal nachgerechnet und festgestellt, dass die USA für den Russland-Ukraine-Krieg in weniger als drei Monaten 65,9 Milliarden US-Dollar zur Verfügung gestellt haben. Das entspricht dem jährlichen Budget, dass Russland für sein Militär aufwendet. Darüber hinaus übersteigen die bisherigen Zuwendungen und die neuen Forderungen Bidens an den Kongress die durchschnittlichen jährlichen Aufwendungen für den Einsatz in Afghanistan, also einem Land, in das die Amerikaner tatsächlich auch Soldaten schickten, und zwar 20 Jahre lang. Man könnte also die Frage stellen, ob neben Russland inzwischen auch die USA einen Krieg in der Ukraine führen oder bis zum letzten Ukrainer kämpfen wollen. Ein Stellvertreterkrieg, der durch knackige Aussagen, über eine Schwächung Russlands als neues Kriegsziel, untermauert wird. Das amerikanische Präsidenten so etwas tun, ist nicht neu. Dass sie es häufiger tun, liegt daran, dass sie sich und ihre Politik auch häufiger zur Wahl stellen müssen. Im November sind die Midterms (Zwischenwahlen). Die könnten Bidens Demokraten verlieren, weshalb er dann für den Rest seiner Amtszeit kaum noch etwas zu melden hätte. Klaus von Dohnanyi ist der Meinung:
Präsident Biden hat – nach meiner tiefen Überzeugung – Verhandlungen mit Russland über die Zukunft der Ukraine nur deswegen abgelehnt, weil er mitten in einem Wahlkampf steht. Die USA wählen alle zwei Jahre ihr gesamtes Repräsentantenhaus und einen Drittel des Senats. Und Biden steht vor diesen Midterm-Elections, die im November dieses Jahres stattfinden und die faktisch jeden Präsidenten, kaum ist er gewählt, schon wieder in eine Wahl treiben. Biden war eigentlich in einer sehr schwierigen Lage. Denn er riskiert wirklich, dass er diese Midterm-Elections verliert, und dann hätte er nichts mehr zu sagen. Wir sind also gegenwärtig in der Hand eines Präsidenten, der gar nicht mehr frei ist, sondern der, um die Wahlen zu gewinnen, was ja auch sein gutes Recht ist, eigentlich eine Politik machen muss, die den Demokraten in den USA gar nicht entspricht, sondern eben den Republikanern.
Modell Stellvertreterkrieg
Das erkennt man auch daran, dass der 33-Milliarden-Dollar Antrag des Weißen Hauses zur weiteren militärischen Unterstützung der Ukraine durch die beiden Parteien im Kongress um mehr als 20 Prozent auf 40 Milliarden Dollar erhöht wurde. Hier herrscht Wahlkampf und das alte amerikanische Motto vor, wenn es zu Hause schlecht läuft, lass irgendwo auf der Welt Bomben regnen. Übrigens läuft es auch schlecht für Boris Johnson, natürlich wegen schlechter politischer Entscheidungen seiner Regierung, aber hauptsächlich wegen unerlaubter Partys während der Coronazeit. Er ist daher der leidenschaftlichste Feldherr, den Europa in diesen Tagen anzubieten hat. Er braucht dringend andere Schlagzeilen – der Krieg liefert sie ihm, stellte eine Analyse der Zeit kürzlich fest.
Die NATO hat sich für das Modell Stellvertreterkrieg entschieden und die USA haben sich zum Paten der Selenskyj-Regierung gemacht, schreibt Gabor Steingart in einem seiner Morning Briefings. Präsident Biden wolle die Schmach von Kabul vergessen machen und sein Image aufpolieren, das durch Trumps Etikettierung als „sleepy Joe“ Schaden nahm, analysiert der Boots-Journalist weiter. Da könnte was dran sein, schließlich scheint der Einsatz für die Amerikaner beim Versuch, die Leistungsfähigkeit der russischen Militärmaschinerie zu testen, vergleichsweise gering zu sein, das Risiko für Europa und Deutschland dagegen ist enorm. Gefragt wäre daher ein Kanzler, der nicht vor den Quartalsirren aus den eigenen Reihen und einer verrückt gewordenen Öffentlichkeit einknickt, die dann über ein herablassendes Lob des ukrainischen Außenministers berichtet, während dessen Botschafter in Deutschland möglicherweise den nächsten provozierenden Tweet vorbereitet. Was hier nach einem Befreiungsschlag aussieht, könnte schließlich in einer atomaren Katastrophe enden.
Übrigens haben die Vertreter der FDP heute die Sitzung des Verteidigungsausschusses vorzeitig verlassen, nachdem der Kanzler dort seine Sicht der Dinge vorgetragen hat. Die Presse spricht von einem Eklat. In Wirklichkeit sind am Sonntag aber Wahlen und zwar in Nordrhein-Westfalen. Die FDP droht dort aus der Regierung zu fliegen und zwar in hohem Bogen, weshalb mit symbolischen Manövern im Bundestag für ein wenig Aufmerksamkeit und Ablenkung gesorgt werden soll. Das ist durchschaubar, aber immer noch besser, als einen Krieg mit Milliardenbeträgen und der Lieferung schwerer Waffen weiter zu verlängern. Die sich daraus ergebende Mitverantwortung für das Leid wird man nicht dauerhaft mit gefühliger Meinungsmache übertünchen können. Inzwischen nimmt die Kriegsangst hierzulande zu. 63 Prozent der Deutschen sorgen sich laut ARD-DeutschlandTrend, dass Deutschland in den Ukraine-Krieg hineingezogen wird. Das sollte man nicht ignorieren.
Bildnachweis: Screenshot AFP via YouTube, 13. Mai 2022
MAI
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.