Heute tagen die Gesundheitsminister der Länder, um über die Coronalage zu beraten. Im Mittelpunkt steht einmal mehr das Impfen. Dass drei Dosen für einen vollständigen Impfschutz mindestens nötig sind, steht mittlerweile außer Frage. Nun sollen Geboosterte auch von Testpflichten befreit werden. Die einen verstehen das als Anreiz zum Impfen und berufen sich, wie Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil, auf die Wissenschaft. Die habe ihm erklärt, dass der Schutz nach der dritten Spritze so hoch ist, dass eine weitere Infektion „wirklich mit einer nur sehr, sehr niedrigen Wahrscheinlichkeit möglich erscheint“ (siehe hier und hier). Das Problem: Die Wissenschaft sagt das nicht.
Im Brustton der Überzeugung hat es geheißen, die Impfung ist der Weg aus der Pandemie. Mit ihr lasse sich Herdenimmunität herstellen, wenn sich nur alle impfen ließen, die sich impfen lassen können. Heute stellt sich diese armselige Figur von Ministerpräsident hin und erklärt den Menschen, die sich mittlerweile schon dreimal haben impfen lassen, leider wirke der Impfstoff nicht so, wie wir uns das erhofft haben. Damit begründete Stephan Weil vor ein paar Tagen seine seltsame Weihnachts- und Neujahrsruhe, die vom 24. Dezember bis 2. Januar nur in Niedersachsen gelten soll, unabhängig von irgendwelchen Indikatoren, die für Warnstufen eigentlich maßgebend sind. Dabei berief sich Stephan Weil auch auf die neue Omikron-Variante, die möglicherweise, niemand wisse es genau, gefährlich werden könne, gerade auch für Geimpfte.
Für Geboosterte soll es nun trotzdem bundesweit Erleichterungen geben. Das sei vertretbar, meint Weil. In Niedersachsen gilt das ja bereits, nachdem der Koalitionspartner der SPD Druck machte und die Landesregierung mit ihren Vorschriften in den letzten Tagen mehrmals zurückrudern musste. Erst 2G-Plus überall, dann nicht mehr für Geboosterte und inzwischen 2G für alle als Option, wenn Kapazitätsbeschränkungen (70 Prozent) eingehalten werden. Dazu ein Beschluss des OVG Lüneburg (ausführlich hier), in dem die Regelung, Ungeimpfte pauschal von körpernahen Dienstleistungen auszuschließen, für unangemessen und damit rechtswidrig erklärt worden ist. Bei Frisören und Co gilt nun also 3G.
Von wem sich der niedersächsische Ministerpräsident nunmehr wissenschaftlich beraten lässt, ist offen. Das Team Vorsicht, dem sich Stephan Weil und seine Regierung zugehörig fühlt, kann es jedenfalls nicht sein. Denn dort wird der beabsichtigte Verzicht auf Testpflichten äußerst kritisch gesehen. Die Frankfurter Virologin Sandra Ciesek twittert heute empört:
Dilemma hier, Dilemma da
Geboosterte besserzustellen, ist im Prinzip auch keine medizinische, sondern eine rein rechtlich Frage, die Stephan Weil mit dem Verweis auf die Wissenschaft auf eine durchaus schäbige Art und Weise verschleiert. Denn welchen Sinn sollten Impfungen auch haben, wenn damit die individuellen Einschränkungen nicht aufgehoben werden können. Es ist ein Dilemma, dass der Impfschutz nicht so wirkt wie anfänglich behauptet und die vorangegangene überschwängliche Kommunikation über Herdenimmunität und zurückgeimpfte Freiheiten ein einziges Desaster ist. Die Berechenbarkeit im politischen Handeln ist fahrlässig geopfert worden und Ministerpräsidenten wie Stephan Weil haben es jetzt schwer, ihre Glaubwürdigkeit durch eine sachgerechte Fehlerkorrektur vor dem Verfall zu bewahren.
Die Sündenbockstrategie, also vor allem die Beschimpfung von Ungeimpften, funktioniert bereits nicht mehr. Vergangenen Freitag sah sich die niedersächsische Landesregierung genötigt, eine Pressemitteilung mit einer Klarstellung zum Zeitabstand für Auffrischungsimpfungen bei kommunalen Impfangeboten zu verschicken, weil es offenbar zu Konflikten im Rahmen der mobilen Impfangebote gekommen ist, für die man keine Termine mehr braucht und wo Impfwillige zum Teil über mehrere Stunden frustriert anstehen müssen. Die Landesregierung stellt in dem Schreiben klar:
Auf Rückfrage einiger Gesundheitsämter hat das Ministerium den Gesundheitsämtern am Donnerstag darüber hinaus mitgeteilt, dass ein Abstand zur zweiten Impfung von vier Wochen keinesfalls unterschritten werden sollte. Das Niedersächsische Gesundheitsministerium empfiehlt ausdrücklich nicht, sich bereits vier Wochen nach der zweiten Impfung um eine Auffrischungsimpfung zu bemühen. Dies ist weder von den wissenschaftlichen Empfehlungen der STIKO und der EMA gedeckt, noch ist es medizinisch sinnvoll, da zu diesem Zeitpunkt noch ein sehr guter Impfschutz besteht. Welche Personen vor Ort eine Impfung erhalten und ob eine Auffrischungsimpfung im Einzelfall medizinisch angebracht ist, kann durch das Land nicht vorgegeben werden, sondern ist immer eine ärztliche Einzelfallentscheidung.
So deutlich erklärte es das Nachbarland Nordrhein-Westfalen offenbar nicht. Da hat man einem Pressebericht folgend, den Eindruck des glatten Gegenteils. Auffrischungsimpfungen seien bereits vier Wochen nach der Zweitimpfung möglich, heißt es da. Zwar sind hier vor allem immungeschwächte Personen gemeint, doch die anders lautende Botschaft wird nicht dementiert. Vielmehr lässt ein Sprecher ausrichten, dass Personen, bei denen die Grundimmunisierung weniger als fünf Monate zurückliegt, nicht zurückgewiesen werden dürfen, sofern ein Mindestabstand von vier Wochen zur Zweitimpfung erreicht ist.
Auch hier wird auf die Wissenschaft und die STIKO verwiesen, die ein solch rein administratives Vorgehen offensichtlich stützen würden. Geht es also tatsächlich um Wissenschaft oder um eine Wissenschaft, die sich mittlerweile nach Belieben politisch einspannen lässt, die sich selbst am süßen Nektar der öffentlichen Aufmerksamkeit berauscht und immer häufiger mit politischen Forderungen und Aktivismus in Erscheinung tritt?
Klar ist nichts
Klar ist nunmehr nichts und auf dem Stuhl des obersten Seuchenbekämpfers sitzt mit Karl Lauterbach ein politischer Hallodri, der mit seinen Aussagen die Verwirrung ebenfalls weiter antreibt und dabei noch stärker rein politische Entscheidungen mit einer Aura von Wissenschaft umweht. Im Brustton der Überzeugung bleiben aber vor allem die Widersprüche bestehen. Es ist nicht gut, wenn Ministerpräsidenten nach ihren bisher haltlosen Behauptungen schon wieder überzeugt erklären, dass der Schutz vor Ansteckung und Weitergabe nach einer Boosterung auf jeden Fall sehr hoch ist. Wie lange hält dieser Zustand eigentlich an, fragt besorgt wiederum der eine Teil der Wissenschaft den euphorischen anderen, der offenbar schon vollends in die Politikberatung eingestiegen ist.
Jedenfalls hat der niedersächsische Ministerpräsident mit der Wissenschaft ganz allgemein nicht viel am Hut. Die sagt nämlich auch, dass der Zugang von Kindern und Jugendlichen zur Teilhabe an Bildung, Kultur und anderen Aktivitäten des sozialen Lebens vom Vorliegen einer Impfung nicht abhängig gemacht werden dürfe. Stephan Weil sieht das komischerweise anders. Es hätten sich ja bereits alle impfen lassen können, so der Ministerpräsident. Nur was nutzt das den Kindern und Jugendlichen, wenn der selbe Herr Weil im Brustton der Überzeugung die Auffassung vertritt, dass nun erst drei Impfungen wirklich sicher sind. Ganz einfach. Kinder und Jugendliche gehören nicht zur Hauptwählergruppe, kann man also erneut quälen, damit Oma Erna endlich wieder auf Kreuzfahrt darf und bei Onkel Stephan und seiner SPD im Oktober 2022 brav das Kreuzchen macht.
Die Jugend sollte derweil mal etwas in die Tiefe des künftigen Abgrunds schauen. Niedersachsen ist VW. VW ist in der Krise. Ein interner Machtkampf konnte vergangene Woche so halb befriedet werden. Was nun aus der Ankündigung wird, 30.000 Stellen abzubauen, niemand weiß es. Klar ist nur, dass Europas größter Automobilkonzern, an dem das Land Niedersachsen zu 20 Prozent beteiligt ist, immer weniger Autos baut und ausliefert. Der Betriebsrat rechnet damit, dass die kommenden Monate hart werden. Man habe eine echte Durststrecke vor sich, so Betriebsratschefin Daniela Cavallo bei der gemeinsamen Pressekonferenz zur Investitionsplanung. Und weiter hieß es, dass sich der Halbleitermangel bis ins dritte Quartal des nächsten Jahres hinziehen werde. Im vierten ist Landtagswahl. Vielleicht erklärt das ja einen Ministerpräsidenten, der sich nicht mehr nordisch dröge, sondern wie ein neuer Trump oder Söder verhält. Am Ende könnte bei dem Transformationsversuch nicht nur VW, sondern auch die SPD auf der Strecke bleiben, die im Augenblick noch komfortabel in Führung liegt.
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DEZ
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.