Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur Bundesnotbremse ist höchst irritierend. Die Ankündigung, dass das Gericht so etwas wie Orientierung für künftige Entscheidungen bieten wolle, hat sich nicht bewahrheitet. Der Beschluss, der mangels öffentlicher Anhörung eben kein Urteil ist, liest sich stattdessen wie eine Rechtfertigung der Regierungspolitik, getragen vom Geist jener Experten, die auch die Bundesregierung stets zu Rate zog. Der Spruch der Richter bleibt daher äußerst einseitig.
Man muss unterstellen, dass das Karlsruher Führungspersonal von eben jenen Qualitätsmängeln betroffen ist, wie große Teile der Exekutive, die trotz Ankündigung, die Ungeimpften weiter zu bestrafen und zu bedrohen sowie Impfpflichten auf den Weg zu bringen, derweil weiter um die Ausgestaltung des falschen Corona-Kurses streitet, doch dazu später mehr. Gleich eine Passage des Beschlusses fällt sehr unangenehm auf.
Sind wegen Unwägbarkeiten der wissenschaftlichen Erkenntnislage die Möglichkeiten des Gesetzgebers begrenzt, sich ein hinreichend sicheres Bild zu machen, genügt es daher, wenn er sich an einer sachgerechten und vertretbaren Beurteilung der ihm verfügbaren Informationen und Erkenntnismöglichkeiten orientiert.
Das ist deshalb problematisch, weil der Gesetzgeber nun die wissenschaftliche Erkenntnislage wesentlich beeinflusst und zwar insbesondere dann, wenn er es unterlässt, die erforderlichen Daten erheben zu lassen. Darauf hat übrigens der Chef des RKI, Lothar Wieler, neulich in einem Gespräch mit der ZEIT hingewiesen, als er danach gefragt wurde, warum seine Behörde bislang keine belastbareren Ergebnisse zur Verfügung stelle, die man unter anderem aus Bevölkerungsstichproben gewinnen könnte.
Ich bereue nichts, weil ich seit Jahren sage, dass wir eine solche Kohortenstudie brauchen. Aber so etwas ist sehr kosten- und personalintensiv und ist auch nicht über Nacht aufgebaut. Auch andere kontinuierliche Studien zur Gesundheit der Menschen in Deutschland sind nicht auskömmlich finanziert. Es ist unser gesetzlicher Auftrag, die Gesundheit der Deutschen zu beschreiben. Wir würden das gern intensiver machen.
Wir könnten also mehr wissen, wenn die zuständigen Stellen in der Bundesregierung das nur wollten. Nun sagt aber das Bundesverfassungsgericht, dass das gar nicht nötig ist. Es reicht für eine sachgerechte und vertretbare Beurteilung der Lage aus, wenn sich der Gesetzgeber an dem orientiere, was zur Verfügung steht. Es gehöre außerdem zur Kompetenz und Freiheit einer Regierung, trotz ungewisser Lage Entscheidungen zu treffen. Das Gericht glaubt offenbar nicht daran, dass diese eher bescheidene Wissensgrundlage vielleicht bewusst in Kauf genommen werden könnte.
Twitter hat entschieden
Jedenfalls hat die Regierung keine Rüge aus Karlsruhe erhalten, kann also ihr Unwissen auch weiter selbst verschulden, Lothar Wieler weiter weinerlich mahnen lassen oder mit Karl Lauterbach einen Minister berufen, der das Erkenntnisvakuum (sic!) mit Unterhaltung füllt. Die Öffentlichkeit habe das so gewollt, schreibt Kevin Kühnert, der künftige Generalsekretär der SPD auf Twitter, der neuen Bild-Zeitung für die Lifestyle-Gesellschaft.
Und Olaf Scholz kündigt Lauterbach mit den Worten an, dass sich bestimmt die meisten Bürgerinnen und Bürger dieses Landes gewünscht hätten, dass der nächste Gesundheitsminister vom Fach ist und das wirklich gut kann und dass er Karl Lauterbach heißt. „Er wird es.“ Medien machen Minister, treffender kann man diese Bankrotterklärung nicht beschreiben. Mit der Behauptung „vom Fach“ könnte natürlich auch ein vergiftetes Lob verbunden sein. So als wollte Scholz sagen, nun siehe zu, wie Du diese in Talk-Shows und sozialen Netzwerken aufgebauschte Popularität in eine vernünftige Politik umsetzt, die nicht den Ruch des Scheiterns trägt. Oder mit anderen Worten, du bist schuld, wenn es weiter stinkt.
Und viel spricht dafür, dass es auch so kommt. Denn die Geduld der Medien, die Lauterbach zusammen mit der Opposition, namentlich Söder und Merz, ins Amt gehoben haben, könnte von kurzer Dauer sein. Sie sezieren bereits seine eklatanten Falschaussagen und Widersprüche. Noch ist das harmlos, aber die Angriffe werden kommen, auch aus den eigenen Reihen. Ein Spaziergang dürfte es daher nicht werden für Volkes Liebling, sondern eher auf Schadensbegrenzung für den persönlichen PR-Strategen hinauslaufen. Einen Posten übrigens, den Lauterbach ebenfalls selbst bekleidet. Er ist wie Spahn ein Meister der Ankündigung und der politischen Dampfplauderei, bei dem so getan wird, als lägen verlässliche Tatsachen auf der Hand.
„Neuinfektionen und Krankenhauseinweisungen, die Validität von Tests, das Alter der Intensivpatienten, der Anteil von Geimpften und Ungeimpften am Infektionsgeschehen – zu all dem gibt es nur höchst unzureichende Daten und Zahlen, auf deren Grundlage aber dennoch Pandemiepolitik betrieben wird.“ So lautet die Einleitung eines Interviews mit dem Medizinstatistiker Gerd Antes. Er sagt: „Die Unterlassungssünden sind schwindelerregend“. Das spielt nur keine Rolle mehr, da das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber einen sehr breiten Einschätzungsspielraum zubilligt und die neue Regierung einen Gesundheitsminister beruft, der viel Spielraum bei den Fakten sieht. Nun ist auch klar, was Olaf Scholz meinte, als er sagte, für seine Regierung gebe es keine roten Linien mehr.
Mehrheit für eine Auszeit
So wird es als nächstes auch vor allem darum gehen, die Kontaktbeschränkungen für alle zu beschließen und zu verkaufen. Diese zwingende Notwendigkeit liegt aber nicht an dem Scheitern der Strategie Teile und Herrsche, die so etwas wie 2G (ein Virusverbreitungsturbo) oder 3G am Arbeitsplatz hervorgebracht hat, sondern an den Ungeimpften oder an den Ungeboosterten oder neuerdings an den Heilpraktikern. Sie alle sind schuld, dass Impfquoten zu niedrig und Krankenhäuser so voll sind. Vom unsolidarischen Verhalten ist die Rede, schließlich will die Oma, die in der Schlange eines provisorischen Impfzentrums steht, endlich wieder auf Kreuzfahrt gehen.
Eine Mehrheit der Deutschen befürworten ein weitgehendes Herunterfahren des öffentlichen Lebens. Vor allem älteren Menschen gehen die aktuellen Regeln nicht weit genug, heißt es in einer aktuellen Umfrage. Die sind ja dann auch auf Kreuzfahrt, könnte man süffisant anfügen, während die Kinder entweder in den kalten Klassenzimmern frieren oder durch abermalige Schulschließungen, die als vorgezogene oder verlängerte Weihnachtsferien verharmlost werden, einmal mehr um ihr Recht auf Bildung betrogen werden. Dieses Recht erkennt das Bundesverfassungsgericht zwar erstmals an, um dann aber erneut festzustellen, dass auch dieses hinter eine Notlage im Erkenntnisvakuum zurückzutreten hat.
Mit der Impfpflicht, die de facto schon gilt, soll nun alles besser werden. Blöd nur, dass niemand weiß, wer geimpft ist. Nicht einmal die Impfquote ist wirklich bekannt. Die Ministerpräsidenten Stephan Weil und Volker Bouffier, die für eine Impfpflicht werben, haben auch schon bemerkt, dass ein Impfregister etwas Feines wäre. Wie klug doch der niedersächsische Ministerpräsident inzwischen ist, dessen Landesregierung zu dämlich war, nach den Einwohnermeldedaten der Kommunen zu fragen und deshalb auf veraltete Informationen eines privaten Dienstleisters zurückgriff, um dann per Namenraten Tote zur Erstimpfung einzuladen. Nun hat man sich mit 2G und 2G+ so verheddert, dass der Frust groß und die Kreuzfahrt fahrende Stammwählerschaft wiederum sehr nah ist. Das Stöckchen, über das Stephan Weil dann sprang, hielt ihm der bundesweit gerupfte Koalitionspartner hin, wie Jens Berger auf den NachDenkSeiten richtig bemerkt.
Wir sind die Niedersachsen – seekrank und planlos, dem ist nichts hinzuzufügen, außer dass das irgendwie auch für andere Landesteile gilt.
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DEZ
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.