Kann es sein, dass die vierte Welle schon bald gebrochen wird? Nach dem Feiertag zu Wochenbeginn, der für uns Nordlichter und die Hälfte der Republik ohnehin nicht galt, schießt die Zahl der Neuinfektionen endlich auf einen Rekordstand hoch. Deshalb wird lautstark nach Verschärfungen gerufen und mehr Tempo beim Boostern gefordert, obwohl Mediziner eher zurückhaltend sind. Es ist halt Aktionswoche und alles muss raus, wie damals bei der Bundesnotbremse, die eigentlich gar nicht mehr nötig war, aber trotzdem kam, um hinterher sagen zu können, genau daran hätte es gelegen. Derweil überlegt das Bundesverfassungsgericht immer noch, wie es der scheidenden Regierung mit einem wohlwollenden Urteil aus der Patsche helfen kann.
Derzeit werden die Zügel wieder angezogen, zumindest verbal. Kurz vor dem Auslaufen der epidemischen Lage liegen die Nerven blank, weil schon bald eine unangenehme Aufarbeitung droht, bei der es am Ende um Verantwortlichkeiten und Schuldzuweisungen geht. In den Heimen wird schon wieder gestorben, woran natürlich die Impfunwilligen schuld sein müssen und nicht eine Regierung, die es erneut verschlafen hat, sich rechtzeitig um die Risikogruppen zu kümmern. Man fand es wichtiger, Bratwurstdebatten zu führen und sich lieber auf Schulen statt Altenheime zu konzentrieren. Hätten sich im Sommer nur alle brav geimpft, stünden die Alten heute lebendiger da, so die Legende. Die Wahrheit ist aber, dass die Impfung nicht so gut schützt, wie ursprünglich kommuniziert.
Von den einstigen Aussagen will aber heute keiner mehr etwas wissen. Eher wird so getan, als sei es genau so gekommen, wie erwartet. Impfdurchbrüche, die nicht als Impfversagen bezeichnet werden dürfen, seien normal, das ergebe sich ja bereits aus den Zulassungsstudien, so Experten wie Stiko-Chef Thomas Mertens in dieser Woche. Er habe auch persönlich damit gerechnet, dass zum Beispiel ein Impfstoff wie der von J&J mit einer Dosis nicht so gut gegen Delta wirkt. Komisch ist dann aber, dass die Behörden trotz der Erkenntnis noch bis vor kurzem die Impfbusse durch die Gegend schickten und mit einem Piks in die Freiheit warben. Nun wird ein mRNA-Booster dringend empfohlen. Wer das Angebot ausschlägt, muss bislang noch nicht fürchten, seinen Geimpft-Status zu verlieren.
Kommunikationsversagen
Nicht die Impfung ist das Problem, sondern die katastrophale Krisenkommunikation. Aus ihr spricht das Misstrauen der Regierenden. So wird der Eindruck erweckt, dass die Bevölkerung ein bisschen dumm sei, weil sie sich entweder von falschen Informationen leiten oder aber von den richtigen nicht überzeugen lasse. Herauskommt dann auch weniger ein aufklärender, denn ein belehrender Ton, so als ob es sich um ungezogene Kinder handelte, die man dauernd erziehen müsse. Dabei bestätigen die Regierenden mit ihren Äußerungen genau diejenigen, die gern als Schwurbler und Coronaverharmloser abgewertet werden. Gestern sagte RKI-Chef Lothar Wieler in der Bundespressekonferenz:
„Wir werden selbstverständlich alle Menschen auf Dauer boostern müssen, um ihnen einen guten Schutz zu geben. Es sei denn, sie wollen sich infizieren und holen sich darüber einen Immunschutz. Aber das halten wir für die schlechtere Option.“
Ist das Absicht? Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder erklärt sogar, dass es einen Freedom Day nur dann geben könne, wenn alle geimpft seien. Ist auch das Absicht? So fallen dann auch die Maßnahmen aus. Die Begründung von 2G ist ja schon lange nicht mehr, dass Geimpfte und Genesene das Virus weniger verbreiten, sondern der Schutz der Ungeimpften vor der großen Dummheit einer Infektion und einer daraus offenbar zwangsläufig folgenden schweren Erkrankung. Nur was hat es den Staat zu interessieren, welches Risiko die Menschen eingehen wollen. Hätte der 34-jährige Bayern-Trainer Julian Nagelsmann einen schlimmeren Covid-Verlauf gehabt, wenn er nicht doppelt geimpft gewesen wäre? Den Eindruck könnte man jedenfalls gewinnen, weil die Impfung das Risiko eines schweren Verlaufs ja auf jeden Fall senkt.
Heißt das nun, dass Nagelsmann ohne Impfung schwer erkrankt wäre und muss sich der 26-Jährige Joshua Kimmich als ungeimpfter junger Sporthüpfer Sorgen machen? Nein. Das Risiko an Covid schwer zu erkranken ist nur für Ältere signifikant erhöht, eine Erkenntnis die unter die Räder kam, seit es die neuen Impfstoffe im Überfluss gibt. Für alle anderen ist die Gefahr, Covid-Heulboje Lauterbach hin oder her, mit einem allgemeinen Lebensrisiko vergleichbar. Diese Menschen leisten auch, wie wir inzwischen wissen, keinen solidarischen Beitrag zum Infektionsschutz, weil alle, ob geimpft oder ungeimpft, weiterhin ansteckend sein können. Es bleibt nur die Abwägung von persönlichen Risiken, die aber nicht mehr privat sein dürfen, wie die offenbar völlig übergeschnappte Ethikratsvorsitzende in Fernsehtalkshows säuselt.
Imagepflege
Noch einmal: Nicht die Impfung ist das Problem, sondern deren politisch moralische Überhöhung zu einem Allheilmittel. Es sind unerfüllbare Erwartungen, gepaart mit einem Kommunikationsdesaster. Und nun ist am Freitag Gesundheitsministerkonferenz, bei der es seltsamerweise darum geht, die Impfzentren zu reaktivieren, denen der Bundesgesundheitsminister, der nun für die Wiedereröffnung trommelt, vor rund einem Monat noch die Unterstützung entzog. Entsprechend irritiert sind nun einige Länder. Worauf sich beide Seiten einigen könnten, bleibt völlig unklar. Sicher ist nur, dass es um Imagepflege geht. Niemand will die Verantwortung für das Versagen übernehmen. Die Konferenz wirkt daher wie der verzweifelte Versuch, alle Gescheiterten daran zu erinnern, dass sie doch im selben Boot sitzen.
Insofern wird es sehr wahrscheinlich einen Beschluss geben, der allen Beteiligten ein gesichtswahrendes Weitermachen ermöglicht, die Bevölkerung aber wieder verwirrt und ratlos zurücklässt. Der geschäftsführende Minister ist um sein Image bemüht. Er will nach dem Ausscheiden aus dem Amt in der CDU noch ganz groß rauskommen. Dafür setzt er weiter auf forsche Ankündigungen, wie die Beendigung der epidemischen Lage, bei der er natürlich falsch verstanden worden war. Nun prescht er mit den Auffrischungsimpfungen für alle vor. Dass Ärztevertreter einen Tag vorher dagegen argumentierten, interessiert den Minister nicht. Er bringt kurzerhand seinen eigenen Professor für Infektionsimmunologie mit, der für das flächendeckende Boostern wirbt und beiläufig erklärt, dass sich bei den mRNA-Impfstoffen ein „Drei-Dosis-Regime“ etablieren werde.
Die Politik bedient sich einmal mehr der Wissenschaft, um die nörgelnde Ärzteschaft in die Schranken zu weisen. Die sollen gefälligst ihren Job erledigen, denn zu viele Impfwillige fänden derzeit keinen Arzt, sagte Spahn. Die Ärzte wiederum stellten klar, dass die Praxen mit Anfragen überhäuft würden, weil die Politik ständig neue Signale sende. „Wir würden ganz gerne unsere Arbeit machen, ohne dass wir ständig gute Ratschläge bekommen“, so Andreas Gassen von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Man brauche Ruhe im System, auch um andere Erkrankungen vernünftig behandeln zu können. Das Gegenteil ist aber bei den Aktionswochen zur politischen Imagepflege der Fall.
Bildnachweis: Screenshot, Bundespressekonferenz vom 03.11.2021
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Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.